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Kind der Nacht

Kind der Nacht

Titel: Kind der Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nancy Kilpatrick
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ihn. André rannte so schnell, dass sie alles nur verschwommen wahrnahm. Sie kam sich vor wie die von Hades entführte Persephone, nur dass diesmal auch Persephones Mutter, Demeter, mit von der Partie war.
    André blieb erst stehen, als er an dem riesigen von dutzenden Glühbirnen erleuchteten Gipfelkreuz anlangte. Er ließ die beiden Frauen auf den festgetretenen, von weißen Kristallen glitzernden Boden sinken und hielt nur einen Augenblick inne, ehe er sich Carol zuwandte. Seine Zähne suchten ihre Kehle.

34
     Carol blickte dem Tod ins Gesicht. André schien es nicht mehr zu geben, und was ihn antrieb, schien unabwendbar.
Alles Menschliche war aus seinen Zügen gewichen. Da war nichts Liebenswürdiges mehr, nichts, was noch irgendein menschliches Gefühl zu erwecken vermochte, nichts als der bloße Instinkt zu überleben, ein verzweifeltes Verlangen, das ihr Schicksal besiegeln würde.
    »Nimm mich! Mich!«, jammerte Rene.
    André packte Rene an ihrer Bluse und zerrte sie zu sich, riss ihren Kragen auf. Sein ganzer Körper war angespannt, jeder einzelne Muskel zeichnete sich deutlich ab. Sein Mund öffnete sich weit. Carol hatte seine Zähne noch nie so groß gesehen. Rene schrie auf, als er sie ihr in den Hals schlug.
    Sie wand sich, bäumte sich auf und kreischte immerzu: »Nein! Nein, lass mich in Ruhe! Hilfe! Ich bitte dich, töte mich nicht!«
    André warf den Kopf in den Nacken. Blut sprudelte zwischen seinen weit aufgerissenen Kiefern hervor, lief ihm übers Kinn. Seine Pupillen waren nur noch winzige Punkte. Er sah aus wie ein Wolf, im Begriff,  Rene die Kehle zu zerfetzen und sich an ihrem Blut gütlich zu tun.  Sein Gesicht verzerrte sich weiter, wirkte nun nicht mehr wie das  eines Tieres, sondern völlig fremdartig.
    Blut quoll aus Renes Hals. Die Wunde war grauenhaft. Sie bestand nicht aus zwei kleinen, sauberen Löchern, sondern er hatte ihr gleich ein ganzes Stück Fleisch aus dem Hals gerissen.
    Ihrem namenlosen Entsetzen zum Trotz stieg mit einem Mal ein uraltes Wissen in Carol auf, ein Instinkt, alt wie die Erde, auf der sie lag. Er durchdrang sie völlig. Plötzlich hatte sie keine Angst mehr. »André!«
    Sein Kopf ruckte in ihre Richtung. Sie blickte in Augen, die sie schon längst nicht mehr wahrnahmen, und sagte mit vollkommener Aufrichtigkeit: »Ich liebe dich.«
    Die einzige Reaktion war, dass er in seinem Angriff innehielt.
    Rene schluchzte; Carol dagegen stellte fest, dass sie keinerlei Furcht mehr empfand. Stattdessen war sie sich über ihre Gefühle mit einem Mal völlig im Klaren. Es war eine vollkommen neue Erfahrung. Sie hielt seinem Blick stand, dem Blick eines Irrsinnigen, eines Ungeheuers, eines ausgehungerten Tieres, und ihre innere Stärke hielt ihn in Schach.
    Stück für Stück rutschte sie zurück, unter ihm hervor. Dabei sah sie ihm unverwandt in die Augen, und er ließ sie gehen.
    Julien tauchte hinter André auf, vor dem leuchtenden Kreuz zeichnete er sich deutlich ab. In der Düsternis der Nacht wirkte er wie eine Marmorstatue. Er schien zu schweben, ein dunkler Nebelschleier, der behutsam vorwärts glitt, bis er Rene erreichte.
    André ließ sie los. Rene kauerte sich schluchzend in den Schnee. Sie sah erschöpft aus, allein. Carol empfand nichts als Mitleid für sie, während Julien sie vorsichtig zurückzog, bis sie in Sicherheit war.
    Carol setzte sich, von André abgewandt, auf. Die anderen nahmen die gleichen Positionen ein wie zuvor - bis auf Rene, die bei Julien blieb, und Morianna, die nun hinter Carol stand, da, wo sich das Feuer befunden hatte. Ihre Augen erglühten in einem bläulichen Rot, Augen, die einen Blick in eine andere Welt erhascht hatten. »Es ist angemessen, dass wir uns an einem Kreuzweg befinden«, sagte sie, »wo das Leben und der Tod aufeinander treffen. Denn dort wird die Verwandlung möglich. Wir wissen um die Weisheit Sophias, allerdings haben wir sie vergessen. Das Wunder besteht nun darin, sich zur rechten Zeit zu entsinnen.«
    Carol sah, wie seitlich vor ihr Karl Michael in den Armen hielt. Seine Augen, die den ihren so ähnelten, glänzten, in seinem Haar, das ebenso dunkel war wie dasjenige Andrés, schimmerten weiße Flocken. Ihr Sohn, dessen Geburt sich heute vor zehn Jahren über so viele Stunden hingezogen hatte. Er winkte ihr zu, und Carol erkannte einmal mehr, wie viel er ihr bedeutete. Gerlinde stand neben ihnen. Und auch die anderen: Chloe, Jeanette, die die Arme um Susan

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