Kind der Prophezeiung
jedermann in diesem Teil Sendariens war damit vertraut, denn die Geschichte war alornischen Ursprungs, und die Länder auf drei Seiten Sendariens waren alornische Königreiche. Aber obwohl ihm die Geschichte vertraut war, hatte er sie noch nie auf diese Weise vernommen. Seine Gedanken flogen empor, als die Götter in seiner Phantasie durch die Welt schritten, und ein Schauer überlief ihn jedesmal, wenn der verbotene Name Torak erwähnt wurde.
Er hörte gespannt zu, als der alte Geschichtenerzähler beschrieb, wie jeder Gott sich ein Volk auswählte – Belar die Alorner, Issa die Nyissaner, Chaldan die Arendier, Nedra die Tolnedrer, Mara die Marag, die nicht mehr sind, und Torak die Angarakaner. Und er hörte, wie der Gott Aldur abseits lebte und in seiner Einsamkeit die Sterne betrachtete und wie er einige Menschen als Schüler und Jünger akzeptierte.
Garion betrachtete die anderen Zuhörer. Ihre Gesichter waren gespannt vor Aufmerksamkeit. Durniks Augen waren weit aufgerissen, der alte Cralto hatte die Hände vor sich in den Tisch gekrallt. Faldors Gesichts war blaß, Tränen standen in seinen Augen. Tante Pol stand an der Rückseite des Raumes. Obwohl es nicht kalt war, hatte auch sie ihren Umhang fester um sich gezogen und stand mit aufmerksamem Blick sehr aufrecht da.
»Und es begab sich«, fuhr der Geschichtenerzähler fort, »daß der Gott Aldur ein Juwel in Gestalt einer Kugel werden ließ; und hört, in dem Juwel war das Licht einiger Sterne gefangen, die am Nordhimmel glitzerten. Groß war der Zauber, der auf dem Juwel lag, das die Menschen das Auge Aldurs nannten, denn mit dem Auge konnte Aldur sehen, was gewesen war, was war und was noch sein würde.«
Garion merkte, daß er den Atem anhielt, denn er war jetzt völlig von der Geschichte gefangengenommen. Er hörte mit Staunen, wie Torak das Auge stahl und die anderen Götter gegen ihn Krieg führten. Torak gebrauchte das Auge, um die Erde zu spalten, worauf das Meer das trockene Land überflutete, bis das Auge zurückschlug gegen diesen Mißbrauch und die linke Seite seines Gesichts zerschmolz und seine linke Hand und das linke Auge zerstörte.
Der alte Mann hielt inne und leerte seinen Krug. Tante Pol, immer noch fest in ihren Umhang gehüllt, brachte ihm einen frischen. Ihre Bewegungen waren dabei würdevoll und ihre Augen brannten.
»Ich habe die Geschichte noch nie so erzählt bekommen«, sagte Durnik leise.
»Es ist das Buch Alorn. Es wird nur in Gegenwart von Königen erzählt«, antwortete Cralto ebenso leise. »Ich kannte einmal einen Mann, der die Geschichte einst am Hofe des Königs von Sendar gehört hat, und er erinnerte sich an Einzelheiten. Ich habe sie allerdings noch nie ganz gehört.«
Die Geschichte ging weiter, berichtete, wie Belgarath der Zauberer Cherek und seine drei Söhne zweitausend Jahre später anführte, um das Auge zurückzugewinnen, und wie die Länder des Westens besiedelt und gegen Toraks Horden geschützt wurden. Die Götter zogen sich von der Welt zurück und ließen Riva als Hüter des Auges in seiner Festung auf der Insel der Winde zurück. Dort schmiedete er ein großes Schwert und setzte das Auge auf den Knauf. Solange das Auge dort blieb und Rivas Nachkommen auf dem Thron saßen, konnte Torak nicht wieder vordringen.
Dann schickte Belgarath seine Lieblingstochter nach Riva, damit sie die Mutter von Königen wurde, während seine andere Tochter bei ihm blieb und seine Kunst erlernte, denn sie trug das Zeichen der Zauberer.
Die Stimme des alten Geschichtenerzählers war jetzt sehr leise, als sich die alte Sage dem Ende näherte. »Belgarath und seine Tochter, die Zauberin Polgara, setzten Magie ein, um gegen Toraks Kommen gewappnet zu sein. Und manche sagen, sie halten immer noch Wache, selbst wenn dies bis ans Ende aller Tage dauern sollte; denn die Prophezeiung sagt, daß sich Torak der Entstellte eines Tages gegen die Königreiche des Westens wenden wird, um das Auge zurückzuverlangen, das er so teuer bezahlt hat. Dann wird eine Schlacht zwischen Torak und den Nachkommen des Hauses Riva entbrennen, und in jener Schlacht wird das Schicksal der Welt entschieden werden.«
Dann schwieg der alte Mann und ließ seinen Umhang zu Boden fallen. Seine Geschichte war zu Ende.
Ein langes Schweigen lag über der Halle, unterbrochen nur von dem leisen Knacken des verlöschenden Feuers und dem endlosen Konzert der Frösche und Grillen draußen in der Sommernacht.
Schließlich räusperte sich Faldor und stand auf.
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