Kind der Prophezeiung
deswegen kann ich mich nicht an allzuviel erinnern. Es schien ein recht netter Ort zu sein.«
Der alte Mann zuckte die Achseln: »Es ist ein Dorf«, sagte er, »wie jedes andere.« Er schien ein wenig in Gedanken zu sein.
Garion, der hoffte, den alten Mann dazu zu bringen, eine Geschichte zu erzählen, damit die Zeit schneller verginge, fing an, Fragen zu stellen.
»Warum hast du eigentlich keinen Namen – falls es nicht unhöflich ist, danach zu fragen?«
»Ich habe viele Namen«, antwortete der alte Mann und kratzte seinen weißen Bart. »Fast so viele Namen wie Jahre auf dem Buckel.«
»Ich habe nur einen«, sagte Garion.
»Bis jetzt.«
»Was?«
»Bis jetzt hast du nur einen Namen«, erklärte der alte Mann. »Mit der Zeit bekommst du vielleicht noch einen anderen – oder sogar mehrere. Manche Menschen sammeln Namen, während sie durchs Leben gehen. Manchmal nutzen sich Namen ab – wie Kleider.«
»Tante Pol nennt dich Alter Wolf«, sagte Garion.
»Ich weiß«, sagte der alte Mann. »Deine Tante Pol und ich kennen uns schon sehr lange.«
»Warum nennt sie dich so?«
»Wer weiß schon, warum eine Frau wie deine Tante etwas tut?«
»Darf ich dich Meister Wolf nennen?« bat Garion. Namen waren für Garion ziemlich wichtig, und die Tatsache, daß der alte Geschichtenerzähler keinen zu haben schien, hatte ihn immer schon gestört. Diese Namenlosigkeit hatte den alten Mann irgendwie unvollständig, unfertig erscheinen lassen. Der alte Mann sah ihn einen Augenblick lang ernsthaft an und lachte dann laut heraus. »Meister Wolf, wirklich. Wie ausgesprochen passend. Ich glaube, der Name gefällt mir besser als alle anderen, die ich in letzter Zeit hatte.«
»Darf ich dann?« fragte Garion. »Dich Meister Wolf nennen, meine ich?«
»Ich glaube, das würde mir gefallen, Garion. Ja, ich glaube, das gefiele mir sehr.«
»Würdest du mir dann jetzt bitte eine Geschichte erzählen, Meister Wolf?« bat Garion.
Die Zeit verging viel rascher, als Meister Wolf für Garion Geschichten von glorreichen Abenteuern und finsterem Verrat aus jenen dunklen, endlosen Jahrhunderten der Arendischen Bürgerkriege wob.
»Warum sind Arendier so?« fragte Garion nach einer besonders schrecklichen Erzählung.
»Die Arendier sind sehr edel«, antwortete Meister Wolf und lehnte sich in dem Wagensitz zurück, die Zügel lässig in einer Hand haltend. »Adel ist ein Charakterzug, der nicht immer wünschenswert ist, da er die Menschen manchmal dazu bringt, etwas aus recht merkwürdigen Gründen zu tun.«
»Rundorig ist Arendier«, sagte Garion. »Manchmal scheint er, nun ja, nicht allzu schnell mit dem Kopf zu sein, wenn du verstehst, was ich meine.«
»Das ist die Auswirkung des ganzen Edelmutes«, sagte Wolf. »Arendier verbringen so viel Zeit damit, sich darauf zu konzentrieren, edel zu sein, daß ihnen keine Zeit mehr bleibt, an etwas anderes zu denken.«
Sie überquerten den Kamm eines langgestreckten Hügels und erblickten das Dorf Obergralt, das im nächsten Tal lag. Garion erschien die kleine Ansammlung grauer Steinhäuser mit Schieferdächern enttäuschend klein. Zwei Straßen, mit dickem weißen Staub bedeckt, kreuzten sich hier, und darüber hinaus gab es noch einige schmale, gewundene Gassen. Die Häuser waren quadratisch und solide, aber kamen ihm fast wie Spielzeug vor, das im Tal unter ihnen lag. Der Horizont dahinter wurde von den Bergen Ost-Sendariens ausgezackt, und auch jetzt im Sommer waren die Gipfel der meisten Berge noch immer schneebedeckt. Das müde Pferd trottete den Hügel hinunter auf das Dorf zu. Seine Hufe wirbelten mit jedem Schritt kleine Staubwolken auf, und bald klapperten sie über die gepflasterten Straßen ins Zentrum des Dorfes. Die Dorfbewohner waren selbstverständlich viel zu bedeutend, um einem alten Mann und einem kleinen Jungen in einem Bauernkarren irgendwelche Beachtung zu schenken. Die Frauen trugen lange Gewänder und hohe, spitze Hüte, die Männer Wams und Samtkappe. Ihr Gesichtsausdruck wirkte hochmütig, und sie blickten mit offensichtlicher Verachtung auf die wenigen Bauern im Ort, die respektvoll beiseite traten und ihnen den Weg freigaben.
»Sie sind sehr fein, nicht wahr?« bemerkte Garion.
»Zumindest halten sie sich dafür«, antwortete Meister Wolf leicht amüsiert. »Ich glaube, es ist Zeit, daß wir etwas zu essen finden, meinst du nicht?«
Als der alte Mann dieses Thema anschnitt, war Garion plötzlich heißhungrig. »Wo sollen wir hingehen?« fragte er. »Sie
Weitere Kostenlose Bücher