[kinder] Allein unter Superhelden
Gefahr, Gefahr!
»Mann, Leon. Flieg doch mal, wie wir alle.«
Ich kann nicht fliegen. Und das weiß Laura. Trotzdem muss sie es mir wieder einmal auf die Nase binden. Oder gerade deshalb. Bei großen Schwestern kann man sich da nie sicher sein, und wenn sie ausgerechnet vierzehn Jahre alt sind und sogar an einem sonnigen Tag im August über das strahlende Blau des Himmels motzen, erst recht nicht.
Da bringt es nichts, etwas zu erwidern. Lieber schiebt man sein Rad weiter die Einfahrt hoch, bevor Mama und Papa auf der Matte stehen und einem auch noch einen Kommentar reindrücken. Laura setzt sanft auf und sieht trotz ihrer üblen Laune so frisch aus, als hätte sie einen Mittagsschlaf in einer Kühltruhe gehalten. Es scheint ein Naturgesetz zu sein, dass Superhelden nicht nur über Superkräfte verfügen, sondern auch super aussehen. Immer.
Mir dagegen schwappt der Schweiß aus den Schuhen. Bei jedem Schritt hinterlasse ich einen kleinen Tümpel auf dem Pflaster.
Neidisch bin ich nicht, auf keinen Fall.
Wenn es nach Mama und Papa ginge, müsste ich mich auch in einen hautengen Gummianzug quetschen, damit ich wenigstens so aussähe, als gehörte ich dazu. Aber für einen stinknormalen Zehnjährigen, der die städtische Grundschule besucht, dürfte es nichts Schlimmeres geben, als zur Tafel gerufen zu werden und zu merken, dass sein Kostüm an der entscheidenden Stelle kneift.
Also nein, danke, ich verzichte.
Und stehe mit meiner kurzen Jeans und dem Shirt im Viertel der Superhelden ziemlich allein da. Zum Glück kommt Paul mich nachher besuchen. Meinem besten Freund ist es egal, wie jemand aussieht. Liegt vielleicht auch daran, dass er trotz seiner dicken Brillengläser kaum etwas erkennt und sich öfter mal mit einem Laternenpfahl unterhält statt mit mir.
Über mir zischt es. Papa und Mama landen neben Laura – oder The Ray und I ceMadam , wie wir sie nennen sollen. Die beiden halten nichts davon, Privat- und Berufsleben zu trennen.
Gerade war es noch windstill, jetzt flattert Papas Cape in einer leichten Brise. Die Fanfarenmusik erklingt, die selbst dann scheppert, wenn Papa nur das Klo betritt. Er und Mama stemmen die Fäuste in die Hüften und präsentieren ein so strahlendes Lächeln, dass ich auf der Stelle blindwerden möchte. Es macht Pling! und über die Schneidezähne der beiden läuft ein Funkeln. Laura verdreht genervt die Augen.
Alles wie immer.
Papa Ray wirft Laura einen Blick zu. Keinen Laser- oder Röntgenblick, sondern eine Mischung aus Recht-hast-du und Aber-als-Vater-darf-ich-das-nicht-zugeben.
Spitze, er hat mal wieder von oben gelauscht.
Er nimmt mich zur Seite und baut ein Kraftfeld um uns herum auf. Muss seinen peinlichen Sohn vor den Nachbarn verstecken, was?
»Hör mal, Leon«, sagt er und ich höre. Ich höre, dass er zu einer Rede ansetzt. »Du kannst nichts dafür, dass du so durchschnittlich und unauffällig bist.«
Mama klopft von außen gegen das Kraftfeld. Ihr Gesicht ist in die Breite gezogen, als hockten Papa und ich in einem Goldfischglas.
»Ist das deine Vorstellung von Den-Jungen-ermutigen, Ray?«
»Um auf den Punkt zu kommen.« Papa ballt die Faust, dass sein Handschuh quietscht. »Du musst hart an dir arbeiten. Wir werden trainieren. Dann wirst du eines Tages auch außergewöhnlich sein. Grandios. Unglaublich. Fantastisch.«
Mama schiebt Laura ins Haus und blickt über die Schulter zu uns zurück. »Ihr wollt euch sicher im Hof die Zeit vertreiben, bis es Abendbrot gibt.«
Kein Fragezeichen. Das können nur Mütter: Einen Befehl als Frage tarnen.
Magst du das Vollkornbrot essen und ein Glas Milch dazu trinken?
Habe ich eine Wahl?
Nein.
Mir mit The Ray die Zeit zu vertreiben, hat mir noch gefehlt. Es macht auch unheimlich Spaß, mit jemandem Ich-sehe-was-was-du-nicht-siehst zu spielen, der durch Wände schaut. Oder wollen wir wieder versuchen, mit den Haaren als Antenne einen Radiosender zu empfangen, wie es Marvin Möller kann, der eingebildete Sohn von Captain Froggo, dem Froschmann? Wie soll ausgerechnet diese Superkraft zu was gut sein?
Mehr als Papas Seufzen, wenn er mich heimlich von derSeite aus beobachtet und den Kopf schüttelt, würde sowieso nicht bei mir ankommen.
Papa springt ungeduldig von einem Bein aufs andere. »Was wollen wir machen? Kreisel gegeneinander kämpfen lassen? Wasserbombenschlacht? Federball?«
Alles Spiele, bei denen es nur einen Gewinner geben kann. Und das ist es, was Papa will: gewinnen. Immer. Auch typisch
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