Kinder der Stürme
Kräuter zu sammeln und Arzneien zu mixen. Ich könnte deine Opfer festhalten, während du ihnen den Bauch aufschneidest. Oder was sonst so nötig ist. Ich habe zweimal als Geburtshelfer assistiert. Ich würde alles tun, was du mir befiehlst. Wann immer du zwei Hände gebrauchen kannst.“
„Mein ganzes Leben habe ich allein gearbeitet, Maris. Für Ungeschicklichkeiten, Ignoranz und Fehler bringe ich keine Geduld auf.“
Maris lächelte ihn an. „Oder für Meinungen, die deiner eigenen widersprechen.“
„Ja. Ich denke, ich könnte dich unterrichten und deine Hilfe brauchen. Aber bei deinem ‚ich tue alles, was du mir befiehlst* habe ich meine Zweifel. Ist es nicht etwas spät für die Rolle des ergebenen Dieners?“
Sie sah ihn an, bemüht, ihre plötzliche Angst nicht zu zeigen. Was konnte sie tun, wenn er sich weigerte? Beinahe hätte sie ihn angefleht, bleiben zu dürfen.
Wahrscheinlich hatte er ihr die Sorgen angesehen, denn er nahm ihre Hand und hielt sie fest. „Wir wollen es versuchen“, sagte er. „Wenn du wirklich bereit bist, etwas zu lernen, werde ich bereit sein, dich zu unterrichten. Es ist ohnehin an der Zeit, daß ich mein Wissen weitergebe, für den Fall, daß mir etwas zustößt. Ich könnte zum Beispiel an Liars Fieber erkranken. Auf diese Weise kann ich sicherstellen, daß mit meinem Tod nicht alles verlorengeht.“
Maris lächelte vor Erleichterung. „Womit fangen wir an?“
Evan dachte einen Augenblick nach. „In der Gegend gibt es einige kleine Dörfer und Zeltlager im Wald, die ich seit einem halben Jahr nicht mehr besucht habe. Wir werden ein bis zwei Wochen reisen und unsere Runde machen. Du wirst dann einen Eindruck von meiner Arbeit bekommen, und wir werden sehen, ob du das durchstehst.“ Er ließ ihre Hand los, stand auf und ging in die Abstellkammer. „Hilf mir packen.“
Während ihrer Reise durch die Wälder lernte Maris viel von Evan. Aber nicht immer bereitete es ihr Vergnügen.
Es war ein schweres Stück Arbeit. Evan war zwar ein geduldiger Heiler, aber ein anspruchsvoller Lehrer. Trotzdem war Maris glücklich. Es tat gut, bis an seine Grenze gefordert zu werden. Sie arbeitete bis zum Umfallen. Auch hatte sie keine Zeit, über ihren Verlust nachzudenken. Nachts schlief sie tief und fest.
Aber während Maris Gefallen daran fand, gebraucht zu werden und Evans Anforderungen gerecht zu werden, stellte das Leben neue Anforderungen, die für Maris wesentlich schwerer zu bewältigen waren. Es war schwierig genug, Fremde zu trösten, aber noch schwieriger war es, wenn es keinen Trost zu spenden gab. So bekam Maris Alpträume, weil eine Mutter ihr Kind verloren hatte. Selbstverständlich oblag Evan die Aufgabe, es der Frau zu sagen, aber Maris war es, der die Frau ihr Leid klagte. Sie weigerte sich, es zu glauben und bat um ein Wunder, das ihr niemand geben konnte. Maris bewunderte Evan, der sich selbst vergessen und soviel Schmerz, Angst und Kummer absorbieren konnte, ohne daran zu zerbrechen. Sie versuchte, seine Ruhe zu übernehmen, seinen Ernst und seine freundliche Art. Dabei erinnerte sie sich daran, daß er sie für stark hielt.
Auch fragte sie sich, ob sie mit der Zeit wohl mehr Geschick und innere Sicherheit für ihre Aufgabe erlangen würde. Maris erschien es so, als würde Evan gelegentlich aus einem Instinkt heraus wissen, was zu tun ist, so wie es bei einigen Holzflüglern der Fall war. Sie flogen, als wären sie für die Luft geboren, während andere das spezielle Gefühl für die Luft vermissen ließen.
So konnte Evan durch seine bloße Berührung einen Kranken heilen, während Maris nicht über solche Fähigkeiten verfügte.
Als am neunzehnten Tag ihrer Reise die Nacht hereinbrach, hielten Maris und Evan nicht an, um sich ein Lager zu bauen, sondern beschleunigten ihren Schritt. Denn sogar Maris, für die alle Bäume gleich aussahen, erkannte diesen Teil des Waldes. Bald kam Evans Haus in Sicht.
Plötzlich ergriff Evan ihr Handgelenk und hielt sie fest. Er blickte in Richtung seines Hauses. In einem Fenster schien Licht, und Rauch stieg aus dem Schornstein.
„Ein Freund?“ fragte sie. „Jemand, der deine Hilfe benötigt?“
„Vielleicht“, sagte Evan ruhig. „Aber es gibt auch andere …
Landstreicher, Leute, die man wegen eines Verbrechens oder Geistesgestörtheit aus ihren Dörfern vertrieben hat. Sie greifen Reisende an, brechen in Häuser ein und warten …“
Langsam schlichen sie sich an das Haus heran. Evan ging voraus, auf das
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