Kinderseelen Verstehen
Kinder ihren Gefühlen aus dem Weg gehen
Fenja, sechs Jahre alt, ist ein sehr ernstes und kontrolliert wirkendes Mädchen. Sowohl im Elternhaus, in ihrer freien Zeit beim Spielen als auch im Kindergarten sieht man sie so gut wie nie lachen. Sie erzählt auch keine Witze wie andere Kinder, sondern verhält sich sehr »vernünftig«. Die eigenen und auch andere Eltern sehen in ihr eine »kleine Professorin«, die sich gerne in der Natur aufhält, mit der Lupe unterwegs ist und Insekten betrachtet, die gerne Rechenkästchen auf Rechenpapier exakt ausmalt oder Fragen an Erwachsene stellt. Zum Beispiel: »Warum schwimmen Schiffe auf dem Wasser, obwohl diese doch viel schwerer sind als ein Stein? Wenn ich einen Stein ins Wasser werfe, geht der unter – und ein Schiff bleibt oben.« Oder: »Warum fällt ein Flugzeug nicht vom Himmel, wenn so viele Menschen in dem Flieger sitzen? Wenn ich einen Stock in die Luft schmeiße, kommt der sofort wieder runter. Und ein Stock ist bestimmt leichter als so ein dickes Flugzeug.«
Besonders auffällig ist, dass Fenja eine geradezu panische Angst vor Wasser hat. Wenn sich beispielsweise die anderen Kinder im Sommer mit einem Wasserschlauch nass spritzen, läuft sie schnell davon und sucht die Nähe der Erzieherin. Geht es gar zum Schwimmbad, will Fenja an diesem Tag erst gar nicht in den Kindergarten, um sich der für sie herausfordernden Situation nicht stellen zu müssen. Ähnlich ist es zu Hause. Wenn die Eltern mit ihrer Tochter an einen nahe gelegenen Baggersee oder zum Freibad fahren wollen, sagt sie ihnen stets eindringlich: »Aber ich muss doch nicht ins Wasser. Ich passe dann auf die Sachen auf, die auf der Decke liegen. Dann werden sie auch nicht geklaut.«
→ Der entscheidende Ausschnitt aus dem biografischen Hintergrund
Fenja wächst in einer freundlich wirkenden Familie auf. Ihre Mutter achtet sehr stark darauf, dass sich ihre Tochter nicht schmutzig macht und beim Spielen nicht verletzt, dass sie sich »wohlerzogen« verhält, sodass man sich mit ihr »überall sehen lassen kann«, dass sie sehr höflich zu anderen ist und es keine Klagen über ihre Tochter gibt. Fenja hat noch einen etwas älteren Bruder: Benno. Er hat im Gegensatz zu seiner Schwester viele Freunde, die er auch nach Hause einlädt, und meistert – laut Aussage der Eltern – sein Leben »komplikationslos«.
Fenjas Vater ist ein liebenswerter Mann, der sich beiden Kindern in seiner knapp begrenzten Freizeit freundlich und aufmerksam zuwendet, der sich aber in der Partnerschaft nicht mit seiner lockeren, fröhlichen Art durchsetzen kann. Das Oberhaupt, die tonangebende Figur in der Familie ist die Mutter. Beide Kinder mögen ihren Vater lieber als die Mutter, die insgesamt eine sehr moralisierende Frau ist. Sie vermittelt vor allem ihrer Tochter, dass es nur Gut und Böse, Richtig oder Falsch, Klug oder Dumm gibt. Durch ihre Äußerungen wie »Fenja, da hättest du mehr aufpassen müssen«, »Fenja, das darf man nicht und das gehört sich auch nicht«, »Fenja, wie oft soll ich dir noch sagen, dass du das zu unterlassen hast« bis hin zu »Fenja, das sieht alles der liebe Gott und der mag das überhaupt nicht, was du da getan hast« fühlt sich das Mädchen ständig und in hohem Maße unter Druck gesetzt.
Fenja möchte, dass ihre Mutter sie liebt. Dass sie mit ihr kuschelt oder ihr sagt, wie gerne sie ihre Tochter hat. Doch darauf wartet Fenja bis jetzt vergebens.
→ Bedeutungswert
Das Wasser wurde von jeher in allen Kulturkreisen und zu allen Zeiten als die ursprünglichste, grundlegendste und bedeutsamste, Leben spendende Kraft angesehen – als »Quelle des Lebens«. Wasser reinigt und heilt, ermöglicht erst das Leben und erhält es – so wie unsere Gefühle. Sie sind es, die dem Menschen zu Lebensglück, Zufriedenheit und Sicherheit verhelfen. Insofern kann zum Wasser als Bedeutungswert gesagt werden: So wie der Mensch seine besondere Beziehung zum Wasser gestaltet, so berichtet er davon, wie seine derzeitige Beziehung zu seiner eigenen Gefühlswelt aussieht.
Auf Fenja übertragen bedeutet dies: Fenja will sich vor dem »Fühlen der Gefühle« schützen und geht ihnen daher aus dem Weg. Offensichtlich ahnt bzw. weißdas Mädchen, dass sie sich in der Familie nicht wirklich von beiden Elternteilen angenommen und geliebt fühlt. Diesen Eindruck möchte sie nicht fühlen. Ja, Fenja möchte ihre Gefühlswelt nicht wirklich fühlen. Es schmerzt sie immer wieder zu bemerken, eine eher
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