Kinderseelen Verstehen
biografischen Hintergrund
Sarah ist ein lang ersehntes Wunschkind, das endlich – nach vielen Jahren – die Familie wieder komplett gemacht hat. Die Eltern hatten vor neun Jahren ihren einzigen Sohn (zehn Jahre alt) durch einen Autounfall verloren. Der Tod ihres bisher einzigen Kindes hat die Eltern zutiefst getroffen und für Jahre regelrecht gelähmt. Der Vater (Bankkaufmann) konnte kaum noch seiner Arbeit nachgehen und die Mutter (Hausfrau) fiel in eine tiefe Depression. Doch dann kam Sarah auf die Welt – und sie ist nun der neue Mittelpunkt ihres Lebens. Sarah wird sehr beschützt und die Mutter unternimmt alles, damit es ihrer Tochter auf der einen Seite »an nichts fehlt«, auf der anderen Seite achten beide Elternteile sehr darauf, dass kein erneuter Unglücksfall eintreten kann.
Sarah weiß noch nichts von ihrem Bruder. Dieses Thema wurde bzw. wird streng tabuisiert. So haben die Eltern nach eigenen Angaben große Angst davor, dass sie sicherlich weinen und ihre Fassung verlieren würden, wenn sie Sarah vom Tod ihres Bruders erzählen würden. Gleichzeitig versuchen die Eltern, alles »Böse oder Traurige« von ihrer Tochter fernzuhalten. Sind sich die Eltern über bestimmte Gegebenheiten uneinig, lösen sie den Konflikt auf eine äußerst disziplinierte Art und Weise, um kein lautes Wort zu verlieren. Gefühle werden dabei weitestgehend unterdrückt, um Sarah nicht zu erschrecken. Als ihre Tochter einmal wissen wollte, warum sie eigentlich kein Brüderchen haben könnte, drehten sich beide Eltern von Sarah weg, um ihre Tränen nicht zu zeigen. Auf Sarahs Frage, warum sie keine Antwort bekäme, nahmen sich die Eltern in den Arm. Sarah schien die Welt nicht mehr zu verstehen. Ihr Kommentar: »Na, dann eben nicht.«
→ Bedeutungswert
Das Klettern ist ein wundervolles Symbol, steht es doch im Bedeutungswert für den Umstand, einen Überblick bzw. Durchblick in einer unüberschaubaren Situation zu bekommen. Offensichtlich spürt Sarah in ihrem Elternhaus, dass es da so etwas wie Geheimnisse, Heimlichkeiten, tabuisierte Themen gibt. Kinder haben dafür ein außergewöhnlich starkes Gespür – sie können in vielen Situationen »zwischen den Zeilen lesen«. Sogenannte Familiengeheimnisse oder permanente Unklarheiten wirken pausenlos auf Kinder – und das führt sie in eine Irritation.
Die kindliche Seele sucht nun eine Lösung. Und da ein Kind seine erlebte Ambivalenz, (s)eine wahrgenommene Widersprüchlichkeit, nicht in Worte fassen kann, reagiert das Unterbewusstsein mit einer symbolischen Ersatzhandlung, getreu dem Motto: Aus der Höhe betrachtet ergeben sich Übersichten, die jedem helfen, neue Einsichten in unübersichtliche Verhältnisse zu finden. Je stärker dieser Drang »nach oben« ist, desto größer ist der Wunsch, Sinnzusammenhänge zu finden.
→ Praktische Hinweise
Eifrig geschützte und gut behütete Familiengeheimnisse wirken sich immer lähmend und entwicklungshinderlich auf Familiensysteme aus. Jeder kennt sicherlich die Situation, in der man sagt: »Ich fühle, es liegt was in der Luft, gleichzeitig kann ich es nicht fassen.« Um eine Familienentwicklung lebendig und für alle förderlich zu gestalten, dürfen keine Familiengeheimnisse gepflegt werden. Sie müssen offensiv, ehrlich, mutig und direkt thematisiert werden, um sich selbst und allen Beteiligten – vor allem der nachfolgenden Generation – diese schwere Last nicht aufzubürden. Auch in unserem Beispiel hat Sarah ein Recht darauf, zu erfahren, dass sie einen Bruder hat, der vor einigen Jahren einen tödlich verlaufenen Unfall hatte. Selbstverständlich können dann auch gemeinsame Besuche am Grab unternommen werden und die Eltern sind nicht mehr darauf angewiesen, ihre Grabbesuche und Blumenstraußkäufe einmal wöchentlich heimlich zu arrangieren.
»Mir ist so langweilig« – Wenn Kinder keine eigenen Ideen haben
Leonie, fünf Jahre alt, macht es ihren Eltern und ihren ErzieherInnen im Kindergarten nicht leicht. Nahezu immer, wenn sie Erwachsene um sich hat, sagt sie: »Mir ist so langweilig. Kannst du nicht mit mir was spielen?« Die Eltern fragen sich, wie das möglich ist, zumal Leonie ein eigenes Kinderzimmer und sehr viele Spielsachen hat. Wenn die Eltern mit ihr in der Stadt unterwegs sind und ihre Tochter in einem Spielwarengeschäft oder in der Spielwarenabteilung eines großen Kaufhauses etwas für sich entdeckt hat und es besitzen möchte, kaufen es ihr ihre Eltern. Sie möchten, dass Leonie glücklich
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