Kinderstation
einen lebendigen Säugling, den man ausgesetzt hat. Um ein hübsches, rosiges, schmatzendes Mädchen, eine Handvoll Mensch, dem man das Leben schenkte und das man nun wegwarf.
Nachtwächter Hubert Bramcke beschloß, mit seiner Frau Erna zu sprechen. Und er hatte es plötzlich eilig, nach Hause zu kommen.
Dr. Wollenreiter beugte sich über den Säugling und hörte mit dem Stethoskop die Herztöne und die Atmung ab. Dabei sah er neben dem Tisch noch immer den Rock und die hellblaue Schürze von Schwester Angela.
»Was ist denn, Schwester?« fragte er laut. »Sie heißen doch Engel! Nun fliegen Sie schon zum Telefon –«
»Das Kind hat Hunger! Ich bringe erst Milch!«
»Hat es bis jetzt in seiner Decke gelegen, wird's auch noch eine halbe Stunde länger liegen. Oberarzt Dr. Julius soll kommen! Nachher heißt es wieder, die jungen Assistenten sollten lieber Urintöpfe auswaschen als Diagnosen stellen! Sie kennen doch den Alten!«
Schwester Angela rauschte beleidigt aus dem Untersuchungszimmer. Dr. Wollenreiter war allein mit dem Findling, setzte sich neben das zugedeckte Kind und untersuchte die Einkaufstasche, die unter der Decke gelegen hatte. Sie enthielt sechs vollständige Garnituren, Jäckchen, ein Paar gehäkelte Schühchen, zwei Unterlagen, ein Mützchen und einen Zettel. In Blockschrift stand darauf:
»Seien Sie gut zu ihr. Und verzeihen Sie mir. Ich wußte keinen anderen Ausweg.«
»Aha!« sagte Dr. Wollenreiter laut und sah das leise wimmernde Kind an. »Deine Mutter wußte also keinen Ausweg mehr! Immer dasselbe, mein Kleines. Man liebt sich, es passiert, und nachher ist die Not groß und der Mut miserabel.«
Schwester Angela kam zurück, in der Hand eine kleine Flasche mit gewärmter Milch. In der Klinik hatte der Alltag begonnen. Türen klappten, auf dem Gang quietschten die Medikamentenwagen. Die Fieberthermometer wurden verteilt, die Schwesternhelferinnen und freien Schwestern kamen ins Haus. 7 Uhr.
»Der Herr Oberarzt kommt sofort!« sagte Schwester Angela. Sie beugte sich über das winzige Mädchen und hielt die Flasche hoch. »So, und jetzt kommt die künstliche Mutti –«
Dr. Wollenreiter verzog das schmale Gesicht. »Was haben Sie denn da in der Pulle?«
»Natürlich Muttermilch!« antwortete Schwester Angela spitz. »Körperwarm, wie es sich gehört.« Sie sah wieder auf die Uhr an der gekachelten Wand. »Ihre Nachtwache ist um, Dr. Wollenreiter«, meinte sie deutlich.
»Ein Glück!« Wollenreiter stand auf und dehnte sich. »Ich gehe ins Wachzimmer und hau mich hin. Falls die Verhöre beginnen, dreimal klingeln.«
Im Flur traf er die Stationsärztin der Privatstation Professor Karchows. Dr. Renate Vosshardt kam gerade durch die Tür und winkte der Pfortenschwester zu.
»Hallo!« rief Wollenreiter. »In unseren Laden kommt frische Luft, Kollegin! Gehen Sie mal in die Aufnahme! Da liegt ein Geschenk! Vier Tage alt, weiblichen Geschlechts, kerngesund!« Er gab Renate Vosshardt die Hand und beneidete wie immer den Oberarzt Dr. Julius, von dem das Gerücht durch die Klinik geisterte, er werde Dr. Vosshardt heiraten.
»Das ist doch nicht möglich!« rief Renate. »Ein ausgesetzter Säugling! Bei uns?«
»So ist es! Bin gespannt, was der Alte dazu sagt.«
Dr. Wollenreiter lachte, gähnte ungeniert und ging dann mit müden Schritten zum Arztwachraum. Dort warf er sich auf die Couch, kreuzte die Arme unter dem Nacken und schlief nach wenigen Minuten ein.
Die Aufregung war weniger groß als man erwartet hatte.
Gegen 10 Uhr umstanden Professor Dr. Karchow, Oberarzt Dr. Julius, Dr. Wollenreiter, Schwester Angela und Kommissar Gutenberg das frisch gebadete, gewickelte und in praller Sattheit schlafende Findelkind. Auf einem Tisch neben dem weißen Bettchen lagen die Sachen, die die noch unbekannte Mutter dem Kind mitgegeben hatte. Kommissar Gutenberg hatte jedes Teil genau betrachtet und dann mit den Schultern gezuckt.
»Rosa Babywäsche wird in unserer Stadt in vielleicht hundert Läden an tausend Kundinnen verkauft. Die Decke ist eine ganz gewöhnliche und billige Reisedecke, die Einkaufstasche ebenfalls ein Massenprodukt, vielleicht sogar aus einem Supermarkt mitgenommen und damit völlig anonym. Damit können wir also gar nichts anfangen. Da muß es einen Arzt geben oder zumindest eine Hebamme. Das Kind ist gesund, gut genährt und, wie Sie, meine Herren, bestätigen, auch sachgemäß nach der Geburt behandelt.«
»Das stimmt. Die Abnabelung ist einwandfrei, die Ligatur ist
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