Nur einen Kuss, Kate!
PROLOG
Kent, England, Spätsommer 1812
“Nein, Papa. Das kannst du nicht von mir verlangen!”
“Bitte, mein Liebes. Es dauert doch nicht lange, und ich befürchte, dass er mir sowieso nicht glauben wird.”
Der hochgewachsene dunkelhaarige Mann, der allein im Empfangssalon wartete, reagierte mit einer derart unvermittelten Drehung seines Körpers auf die nebenan hörbar gewordenen Stimmen, dass sein Gesicht sich vor Schmerz verzerrte und er eine leise Verwünschung ausstieß. Auf den Stock gestützt, bewegte er sich nun mit größerer Vorsicht.
Er warf einen Blick in die Richtung, aus der die Unterhaltung kam, und zupfte nervös an seiner Krawatte. Die Kleidung, die er trug, war von feinster Qualität, wenn auch ein wenig aus der Mode, und schien für einen viel stattlicheren Mann gefertigt, da die Jacke ihm zu groß war und nur um die Schultern gut saß. Der Gentleman selbst bot einen auffallenden Anblick, wie er so dastand und aus dem Fenster starrte, groß, breitschultrig und gut aussehend, wenn auch so schmal, dass es an Hagerkeit grenzte.
Jack Carstairs war mit seiner Geduld am Ende, da er nach stundenlanger Fahrt nun bereits eine halbe Ewigkeit im Salon zu warten schien, zu lange jedenfalls für einen Mann, der als Offizier in Wellingtons Armee in Spanien die letzten drei Jahre meist unter freiem Himmel verbracht hatte. Er öffnete die Tür zur Terrasse und trat hinaus. Hier war die melodiöse Stimme seiner Verlobten deutlicher zu hören.
Ungeduldig ging Jack weiter. In wenigen Minuten würde er sie wieder in den Armen halten. Eilig hinkte er zur offenen Flügeltür, aus der die Unterhaltung zu ihm herüberdrang.
“Nein, Papa, du musst es ihm sagen. Ich will ihn nicht sehen.” Julias Stimme klang trotzig und abwehrend. So hatte Jack sie nie erlebt.
“Schon gut, Liebes, ich werde mit ihm sprechen, aber du musst dabei sein, sonst glaubt er es nicht.”
Jack erstarrte. Erst vor einem Monat, kurz vor seiner Verwundung, hatte er einen zärtlichen Brief von Julia erhalten, zugleich mit dem Schreiben, das ihn vom Tod seines Vaters in Kenntnis setzte.
Die geliebte Stimme wurde kindlich flehend. “Ich möchte ihn nicht sehen. Er ist so anders geworden.”
Ihr Vater, immer schon Wachs in den Händen seiner schönen Tochter, ließ sich diesmal nicht beirren. “Meine Liebe, das war zu erwarten. Der Krieg verändert einen Mann.”
“Er ist hässlich, Papa. Sein Gesicht ist verunstaltet.”
Unwillkürlich befingerte Jack die hervortretende, noch immer rote Narbe, die von seiner Schläfe bis zum Mund reichte.
“Und er kann kaum noch gehen.” Ihr Ton wurde noch flehender. “Bitte, Papa, verlange nicht, dass ich mit ihm spreche. Schon sein Anblick ist mir unerträglich. Es wäre besser, er wäre umgekommen. Ja, ich weiß, es klingt hart”, fuhr Julia fort, “aber wenn ich an meinen stattlichen Jack denke und ihn jetzt sehe, könnte ich weinen. Nein, Papa, es geht nicht.”
“Bist du sicher?”
“Natürlich. Du sagtest ja selbst, dass sein Vater ihm nichts hinterließ. Ich kann doch keinen Habenichts heiraten.” Sie stampfte mit dem Fuß auf. “Ich darf gar nicht daran denken, dass ich all die Zeit mit Warten vertan habe! Er kann ja kaum einen Schritt gehen und wird nie wieder in der Lage sein, mit mir zu tanzen.”
Sie hielt inne, in Gedanken bei den zauberhaften Momenten auf dem Tanzparkett, als sie die Blicke aller auf sich gezogen hatte und jede Frau im Ballsaal sie beneidete.
“Nein, Papa, ausgeschlossen! Ich bin nur froh, dass du unsere Verlobung nicht offiziell bekannt geben wolltest, obwohl es mir damals hartherzig erschien.”
Jack war bleich geworden. Mit grimmigem Gesicht zog er die Fensterdraperien zurück, die ihn verborgen hatten, und betrat den Raum. Er hatte genug gehört.
“Ich denke, damit ist alles gesagt”, bemerkte er leise und endgültig.
Verlegenes Schweigen trat ein, da die Belauschten nicht wissen konnten, wie viel er gehört hatte. Jack ging schleppenden Schrittes zur Tür und öffnete sie für Julias Vater.
“Würden Sie uns wohl allein lassen, Sir Phillip?”, sagte er.
“Carstairs”, brauste Sir Phillip Davenport auf. “In meinem Haus lasse ich mir nichts befehlen. Ich kann verstehen, dass es ein schrecklicher Schock für Sie sein muss, doch da Sie nicht mehr in der Lage sind, für meine Tochter zu …”
“Danke, Sir!”, unterbrach Jack ihn. “Ich weiß, was Sie sagen wollen, aber ich glaube, dass mir ein paar Augenblicke allein mit meiner
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