Kinderstation
Landgerichtspräsident Dr. Prenneis und sogar der Herr Regierungspräsident selbst für die Lauterkeit der Adoptiveltern verbürgen«, sagte Dr. Julius steif.
»Ich weiß, ich weiß.« Der Oberamtmann wehrte mit beiden Händen ab, als umsumme ihn ein Hornissenschwarm. »Aber es hat sich ja alles geändert. Uns liegt die Mitteilung der Staatsanwaltschaft vor, daß die leiblichen Eltern ermittelt worden sind.«
Franz und Julia sahen sich kurz an. Vorbei, hieß dieser Blick. Es war alles nur eine Illusion. Die Mühle der Justiz hat uns zwischen den Mahlwerken, und nun werden wir verschrottet.
Der Oberamtmann sah die beiden jungen Leute an. Wie oft haben solche jungen Menschen vor mir gesessen, dachte er. Ich kann es gar nicht mehr zählen. Und immer war es das einzige, über ihnen zusammenschlagende Problem: Sie wurden mit dem Leben nicht fertig. Der Alltag war härter als ihre junge, unausgegorene Kraft.
»Sie sind die leiblichen Eltern!« sagte er laut. »Der Umweg über die Adoption ist somit nicht mehr nötig! Die Staatsanwaltschaft hat uns mitgeteilt, daß die Akte geschlossenen und das Verfahren wegen Geringfügigkeit eingestellt wurde. Die entstandenen Kosten sind alle durch Herrn Dr. Wollenreiter bezahlt. Es besteht also kein Hindernis mehr, daß Sie Ihr Kind aus der Kinderklinik mitnehmen dürfen. Allerdings muß jetzt eine ordnungsgemäße standesamtliche Geburtseintragung erfolgen, damit wir den Namen Maria Ignotus ein für allemal streichen können und das Kind nun Maria Höllerer heißt.«
Julia nickte stumm. Dann lehnte sie sich an Franz, schloß die Augen und verlor die Besinnung. Der Oberamtmann stand hilflos davor, Dr. Julius beträufelte sein Taschentuch mit Kölnisch Wasser und rieb damit Julias Stirn ein. Franz hielt seine Frau mit beiden Händen in sitzender Stellung auf dem Stuhl.
»Es ist schön, wenn sich ein Mensch noch so freuen kann«, sagte der Oberamtmann und bemühte sich, seine Ergriffenheit nicht deutlich zu zeigen.
»Ja«, sagte Franz Höllerer leise und streichelte Julias Kopf. »Und außerdem bekommen wir in sechs Monaten unser zweites Kind –«
Eine große Kinderklinik ist ein kleines Staatswesen für sich mit vielen Schicksalen, die kommen und gehen, tagelang oder wochenlang im Mittelpunkt stehen und dann wieder untertauchen im Grau des Alltags, im Gewühl der Masse Mensch. Nur wenige Dinge bleiben zurück und wachsen mit und werden Bestandteil dieser kleine Welt, gewissermaßen die Zelle, aus der sich alles entwickelt.
Auch die Kinderklinik ›Bethlehem‹ war darin nicht anders. Professor Karchow blieb der gefürchtete Chef, und seine Grobheit, aber auch große Güte wurden nun noch verstärkt durch seinen neuen Oberarzt Dr. Wollenreiter, von dem bald der Ruf ausging: Er hat die Salzsäure als Magenheilmittel entdeckt. Seine erste Tat nach Antritt des Oberarztpostens war die Entlassung der frechen Lisa Heintel. Sie hatte es selbst verschuldet mit der Bemerkung: »Oh, mein Süßer, nun, wo du Oberarzt bist, können wir ans Heiraten denken!«
Bei solchen Reden reagierte Dr. Wollenreiter wie ein Automat, in den der Groschen fällt. Es machte Klick in ihm, er rief die Verwaltung der Klinik an und bat darum, Fräulein Heintel die Papiere auszuhändigen. Für diese Tat gewann er die Hochachtung aller Schwestern von ›Bethlehem‹. Selbst seine Grobheiten nahmen sie widerspruchslos hin.
Nachtwächter Bramcke saß noch immer jede Nacht in seinem Glaskasten, aß Schinkenbrote und trank Kaffee aus der Thermosflasche. Er hatte schlimme Wochen hinter sich. Mit knapper Not war er nach dreißigjähriger Ehe einer Scheidung entgangen.
Nach der Auflösung des Experimentierkellers, in dem Dr. Julius die Adertransplantationen geübt hatte, schaffte man die überlebenden Ratten, Meerschweinchen und Hunde weg. Nur der Affe Bruno war ein Problem. Nachtwächter Bramcke hatte sich so an ihn gewöhnt, daß er protestierte, als man Bruno in einen Zoo geben wollte.
»Den übernehme ich!« sagte er. »Bruno hat sich so an mich gewöhnt, er würde im Zoo vor Heimweh eingehen.«
Und so wurde Bruno der Anlaß, daß Frau Bramcke nach dreißig Jahren ruhiger Ehe ihre Koffer packte und weg wollte. »Mit einem Affen habe ich genug!« schrie sie ihren Mann an. »Das Vieh kommt mir aus dem Haus – oder ich gehe!«
Bramcke nahm diese Drohung wörtlich und behielt Bruno. Er machte ihm einen schönen, großen Stall im Hinterhof und ging sogar mit ihm spazieren, Hand in Hand.
Dreißig Jahre Ehe sind
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