Kindersucher - Kriminalroman
förmlich bei dem Gedanken an den Namen in dem Kontobuch, der in Großbuchstaben geschrieben worden war, ähnlich wie die Namen auf den Ziegelsteinen in dem Verlies unter der Knochengasse. TURM-LABORATORIEN.
Worum auch immer es sich dabei handelte, er musste diese Laboratorien finden.
Und Ilse ebenfalls.
Eingehakt traten sie durch das Tor des Grundstücks, als ein graues Kaninchen den Kopf aus einem Blumenbeet hob. »Sag mir jetzt nicht, dass du plötzlich Angst vor Kaninchen hast!« Vicki lachte, als sie spürte, wie Kraus sich anspannte. »Wie nennt man das noch gleich? Leporiphobie?«
Seine Frau las mehr psychologische Fachliteratur als sein Cousin Kurt.
»Es sind nur Seitenstiche, das ist alles.« Kraus zwang sich zu einem Lächeln.
Aber er wusste, dass er sich beinahe verraten hätte.
Das Dienstmädchen ließ sie ein, und Sylvie begrüßte sie in einem schimmernden, tief ausgeschnittenen Cocktailkleid. Ganz offenbar hatte sie bereits reichlich dem Champagner zugesprochen. Sie küsste die Neuankömmlinge ausgiebig, bat sie dann herein und beschwerte sich gleichzeitig, dass sie sie nie besuchen kämen.
Der einzige weitere Gast war Graf Oldenburg, der einer der schillerndsten Sterne in Fritz’ Galaxis war. Der Lebemann mit den großen Lücken zwischen den Zähnen hatte ganz offenbar irgendein Aufputschmittel genommen, jedenfalls unterhielt ersie stundenlang mit Anekdoten aus einer Welt, über die sie sonst nur in den Sonntagsbeilagen der Zeitungen lasen. Tee mit Virginia Woolf. Dinner mit André Gide. Und dann erging er sich in Beschreibungen, wie die Theaterarchitektur von London und Paris der von Berlin ein Vierteljahrhundert hinterherhinkte. Außerdem war natürlich auch das deutsche Design allen anderen Lichtjahre voraus, was die Gropius-Werkbund-Ausstellung im Salon des Artistes Décorateurs zeigte.
»Ich persönlich glaube, dass Deutschland in eine Art modernes, goldenes Zeitalter eintritt, so wie einst Griechenland.« Das Gesicht des Grafen schimmerte im Licht der Kerzen. »Ist Ihnen zum Beispiel aufgefallen, wie viel mehr schöne junge Menschen es gibt als vor dem Krieg? Die ganze Physis der Nation wurde gestärkt, seit die Menschen die Freikörperkultur akzeptiert haben.«
Nach einer Weile zog sich Kraus in die Küche zurück, um ein Glas Wasser zu trinken. Fritz folgte ihm und erwischte ihn an der Spüle. »He, was höre ich da über eine Hirtin?« Er nuschelte trunken. »Das alte Plappermaul Wörner hat es beim Cocktail ausgeplaudert. Er sagte, diese Hexe wäre die gefährlichste der drei Köhlers. Und dass du darüber Stillschweigen bewahren würdest, damit sie nicht merkt, dass du ihr auf der Spur bist. Sch!« Er legte einen Finger auf seine Lippen. »Ich verrate es niemandem.«
Leider hatte er das schon getan.
Denn während er einen Schluck Wasser trank, sah Kraus durch den Boden des Glases, wie Vicki in die Küche kam. Sie hörte, was Fritz sagte, und wurde kreidebleich. Dann warf sie Kraus einen Blick zu, der ihm fast das Herz zerriss und der ihn zu fragen schien, wie er sie so hintergehen konnte. Noch bevor er das Wasser herunterschlucken konnte, marschierte sie wieder hinaus, verschränkte die Arme und tat, als würde sie Graf Oldenburg fasziniert zuhören.
Als die Wahlergebnisse verkündet werden sollten, hatte der Graf mittlerweile eine verblüffende Odyssee der Zukunft dieser Nation entworfen, nicht nur was die Überwindung der Depression bis 1933 anging, sondern auch Deutschlands Aufstieg über alle anderen Demokratien, sowohl ökonomisch, wissenschaftlich als auch kulturell.
Wenn nur das Wahlergebnis seine Prophezeiungen unterstützte.
Alle Experten, sämtliche Meinungsumfragen, sogar Fritz lagen jedoch vollkommen falsch.
Nachdem sie die Zahlen und die anschließende Analyse gehört hatten, waren alle wie versteinert.
»Mein Gott!« Sylvie leerte ihr Glas, ging dann schwankend zum Radio und schaltete es ab. »Was für ein schrecklicher Tag für Deutschland.«
»Für ganz Europa.« Fritz strich sich über seinen Schnurrbart.
Die bürgerlichen Parteien hatten die Mehrheit behalten, gewiss, aber nur hauchdünn. Die Sozialdemokraten waren immer noch die stärkste Partei, hatten jedoch enorme Verluste hinnehmen müssen, während die KPD, die deutschen Kommunisten, dreiundzwanzig Sitze dazugewonnen hatten und jetzt mit siebenundsiebzig Sitzen im Parlament vertreten waren. Aber es war die NSDAP, die Nazipartei, zuvor eine der kleinsten Parteien im Reichstag, die ungeheure
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