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Kindersucher - Kriminalroman

Kindersucher - Kriminalroman

Titel: Kindersucher - Kriminalroman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paul Grossman
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weghustete. »Ganz besonders für die Jungs. Heinz wird keinerlei weiterer Kontakt mit Erich oder Stefan erlaubt.«
    Heinz, der fast genauso in ihrer Wohnung aufgewachsen war wie in der seiner Eltern, versuchte die Wut zu unterdrücken, die seine pummeligen Wangen rötete, bis er es nicht länger ertragen konnte.
    »Aber ich will das nicht!« Er hob den Kopf und heulte vor Trauer und Schmerz.
    Irmgard drehte sich herum und schlug dem Kind mitten ins Gesicht. Der Junge wirkte wie versteinert. »Wir haben dir das alles bereits erklärt, Heinz.«
    Erich keuchte vor Schreck, und Stefan fing an zu weinen.
    Vickis Busen hob und senkte sich unter ihren schweren Atemzügen. »Irmgard«, sie drehte sich zu der anderen Mutter um. »Du kannst doch nicht einfach ...«
    Das Gesicht ihrer Nachbarin wurde so hart wie Stahl. Ob Irmgard es glaubte oder nicht, ob sie es wollte oder nicht, ob sie es für gerecht hielt oder nicht: All das spielte keine Rolle mehr. Es war, wie es war. Und sie vollzog die Trennung ebenso rasch wie sie ein Hühnchen geköpft hätte.
    »Es ist nichts Persönliches.« Sie riss einen langen Streifen Efeu von der Wand und hinterließ dadurch eine harte Demarkationslinie, wo jahrelang enge Verwobenheit geherrscht hatte. »Es ist eine Frage der Gesundheit.« Sie warf das Efeu über das Geländer. »Wir halten uns von euch fern«, sie wischte sich die Hände mit grimmiger Entschlossenheit ab, »wie wir uns von schädlichen Bakterien fernhalten würden.«

NEUNUNDZWANZIG
    Herbstnebel lag über dem Alexanderplatz. Es war ein kalter, bedrückender Nachmittag. Nur ein paar ganz Mutige wagten sich auf das offene Oberdeck der Doppeldeckerbusse. Als Kraus das Polizeipräsidium verließ, spürte er jeden einzelnen Knochen im Leib. Sie schmerzten, als bekäme er eine Grippe. Aber es ist viel wahrscheinlicher, sagte er sich, während er barsch die Krempe seines Hutes tiefer zog, dass es nur Melancholie ist, angesichts der Ereignisse der letzten Woche.
    Fast jeder in Deutschland war niedergeschlagen, abgesehen natürlich von Hitler und seinen Anhängern. Noch eine Woche nach der Wahl erschütterten die Nachwirkungen das Volk, das Parlament war wie gelähmt, während die Krisenstimmung zunahm. Die Milizen der Nazis und der Kommunisten steigerten ihre Auseinandersetzungen von Prügeln und Schlagringen auf den Gebrauch von Messern und Schusswaffen, und immer mehr Pleiten und Geschäftsaufgaben vergrößerten das allgemeine Elend.
    Als Kraus die Dircksenstraße überquerte, war er zumindest über eins froh: Es hefteten sich keine Reporter mehr an seine Fersen. Es mochte vielleicht stiller um ihn geworden sein, aber er erledigte seine Aufgaben lieber unbeobachtet. Das fühlte sich erheblich sicherer an. Auf der anderen Straßenseite schlug er den Mantelkragen hoch und nahm sich einen Moment Zeit, in den Abgrund zu blicken. Jenseits des Geländers lag die zukünftige U-Bahn-Station, eine Grube aus dunklem, nassem Schlamm. An der tiefsten Stelle waren riesige Röhren installiert worden, aber der gewaltige Graben schien immer noch Lichtjahre von dem entfernt zu sein, was auf den Plakaten zu sehenwar: silbrig schimmernde Rolltreppen, die zu Bahnsteigen hinabführten, die beige oder aquamarin gefliest waren, und zu Passagen, die von kleinen Geschäften gesäumt wurden. Irgendwann jedoch, das wusste er, würde er von hier aus direkt bis nach Hause fahren können. Bis es so weit war, musste er jedoch immer noch den ganzen Alexanderplatz überqueren, um zur S-Bahn zu gelangen.
    Es war fünfzehn Uhr am Samstagnachmittag, das Wochenende war offiziell angebrochen und auf den Bürgersteigen drängte sich das übliche Tollhaus von Huren, Schiebern und Straßenverkäufern ... alles sowohl im übertragenen als auch im wörtlichen Sinne unter den Augen des Polizeipräsidiums. Vor einer der größeren Bierhallen zog ein Schlangenmensch eine recht große Menge Schaulustige an. Er hatte seine Beine vollständig hinter seine Arme geschoben, so dass sein Hinterteil, wenn er auf den Händen stand, praktisch unter seinem Kinn herausragte. Es war völlig bizarr und versetzte Kraus in eine ganz ähnliche Situation aus seiner Kindheit.
    Er konnte nicht älter als fünf oder höchstens sechs Jahre gewesen sein, als er irgendwo hier in der Gegend an der Hand seiner Mutter einen Zigeuner mit einem Kopftuch gesehen hatte, der auf eine Trommel schlug und einen riesigen Tanzbären hinter sich herführte. Wie faszinierend und schrecklich diese riesige,

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