Kindersucher - Kriminalroman
stehen vor dem Ruin, meine Teuerste«, verkündete er, »sowohl finanziell als auch anderweitig.«
Kraus’ Augen wurden langsam glasig.
»Sehen Sie sich doch nur die Wahlplakate dieses Monats an«, meinte von Schleicher lachend. »›Hitler über Deutschland‹, also wirklich! Der Mann ist in zehn Städten rausgeflogen und hat zwanzig Prozent seiner Reichstagssitze eingebüßt.«
»Seine Partei ist immer noch die stärkste Kraft«, ergänzte Fritz’ Exfrau Sylvie jammernd.
»Aber sie hat ihren Zenit überschritten.« Der General nahm sein Monokel aus dem Auge. »In einem Jahr, das versichere ich Ihnen, werden Sie sich nicht einmal mehr an Hitlers Namen erinnern.«
Es war eine ungeheuere Erleichterung, als sich Fritz’ Butlervorbeugte und flüsterte, es gebe einen Anruf für den Herrn Kriminalinspektor.
»Sie können ihn in der Bibliothek annehmen, wenn es Ihnen beliebt, mein Herr.«
»Bitte entschuldigen Sie mich.« Kraus erhob sich und schüttelte seine halb abgestorbenen Beine aus.
Dann humpelte er den langen, weißen Flur entlang und gelangte zu einem von Glaswänden umschlossenen Raum, der eher an ein Aquarium als an eine Bibliothek erinnerte. Gunther war am Telefon. Er rief vom Alexanderplatz aus an.
»Ist sie so schön wie auf der Leinwein? So sexy wie die verruchte Lola?«
»Wovon reden Sie, Gunther?«
»Entschuldigen Sie, Chef. Aber es ist wieder eine Wasserleiche aufgetaucht. Diesmal ist es ein Mädchen. In Spandau, unter der Zitadelle.«
Kraus schnürte es die Kehle zu. »Also gut. Ich bin unterwegs.«
»Ja, Chef. Ich sage Bescheid.«
»Ach, und Gunther?«
»Ja, Herr Inspektor?«
»Sie ist es. Jeder gottverdammte Zentimeter. Selbst in Männerhosen.«
»Ich wusste es! Eine Million Mal Dank, Chef.«
Will hängte den Hörer auf die Gabel zurück und blieb einen Augenblick stehen. Leichen in Flüssen waren in diesen Zeiten für Berlin keine große Sache. Aber er hatte noch nie gehört, dass eine in Alt-Spandau auftauchte. Und dann noch ein Mädchen.
Im Wohnzimmer machten sie ein großes Gewese um seinen abrupten Aufbruch. »Musst du weg, um einen anderen Feind zu fangen?« Sylvie sprang auf, um ihn zu eskortieren, und nahm seinen Arm.
»Sie sind ein ziemlicher Star geworden, nicht wahr, Kraus?« Die Dietrich musterte ihn, als wäre er ein kostbares Rennpferd. »Selbst in Amerika kennt man den großen Kriminalisten, der dieses Monster, den Kinderschänder von Berlin, dingfest gemacht hat. Sie sollten nach Hollywood kommen. Ich wette, man macht einen Film über Sie.«
»Ich glaube nicht, dass sie einen Schauspieler finden würden, der auch nur annähernd langweilig genug wäre, um mich spielen zu können.« Kraus zwang sich zu einem Lächeln.
Fritz lachte viel zu laut über diesen Scherz, und der lange, gezackte Schmiss auf seiner Wange lief knallrot an.
Kraus nahm die neue Schnellstraße nach Spandau. Im Sommer war sie eine Rennstrecke, ansonsten aber war die Avus für den Straßenverkehr geöffnet und für gewöhnlich leer. Die Kiefernwälder warfen einen unheilvollen Schatten, als er beschleunigte. Wie die Deutschen ihre Wälder lieben, dachte er, während er in den vierten Gang hochschaltete. Je dichter und dunkler, desto besser. Ihm persönlich war der Strand lieber. Und gleißender, strahlender Sonnenschein. Freies Gelände. Aber diese Straße war wirklich großartig. Ein weißer Streifen in der Wildnis. Er fuhr viel schneller, als er sollte, vor allem nach soviel Champagner. Doch der Adrenalinstoß war zu berauschend. Das silberfarbene BMW-Sportcoupé war der einzige Luxus, den er sich gönnte. Er sammelte keine Kunst, und er reiste auch nicht. Und er hielt keine Frauen aus. Er war einfach nur langweilig. Die sechs Zylinder des BMW 320 brachten den Wagen auf hundert Stundenkilometer. Er war gerade langweilig genug gewesen, um der berühmteste Polizeiinspektor Deutschlands zu werden. Das Fahrzeug lag auf der Straße, als würde es sich kaum bewegen, dabei fuhr er hundertzehn. Die Kiefernwälder verschwammen, als sie vorbeihuschten. Was für ein Idiot Fritz sein konnte, wenn er betrunken war! Kraus trat das Gaspedal durchund beschleunigte auf über einhundertzwanzig. Er schien über der Autobahn zu schweben.
Trotzdem würde Kraus ihm sein Leben anvertrauen.
Eine halbe Stunde später kroch er über die mittelalterlichen Straßen von Alt-Spandau, einer der wenigen Stadtteile Berlins mit authentischer Geschichte. Schmale Straßen, gesäumt von Fachwerkhäusern, führten zu der
Weitere Kostenlose Bücher