Kindersucher - Kriminalroman
Zitadelle aus dem 15. Jahrhundert, deren massive Mauern sich immer noch an der Stelle erhoben, an welcher die Spree in die Havel mündete. Als er den Wagen parkte, ging die Sonne über dem grauen Wasser unter. Am Ufer erblickte er mehrere Uniformierte in ihren Ledermänteln und den glänzenden Helmen mit den schwarzen Schirmen.
»Inspektor.« Die Männer entdeckten ihn sofort und bildeten eine Gasse.
Selbst auf der Straße erkannten ihn die Menschen, baten um ein Autogramm und ließen sich mit ihm fotografieren. Der große Kinderschänder-Fänger. Eine Mischung aus Bewunderung und Neid schlug ihm entgegen, als die Polizisten ihn umringten. Etliche Kollegen aus der Abteilung interessierte sein Ruhm überhaupt nicht, und ihm selbst lag auch nichts daran. Sie waren alle Vertreter des Gesetzes. Ohne Gesetze waren die Schwachen wehrlos.
»Machen Sie sich auf eine Schweinerei gefasst«, sprach ein Beamter namens Schmidt ihn an.
Kraus hatte während seiner Dienstzeit bei der Mordkommission der Berliner Kriminalpolizei schon mehr als genug Leichen gesehen. Verstümmelte Leichen, enthauptete Leichen, Leichen, die man gekocht und in Wurstpellen gestopft hatte. Aber diesmal blieb ihm fast das Herz stehen. Dieses Berlin der Weimarer Republik, das von den Jahren des Krieges, der Niederlage, der Revolution, der Inflation und jetzt der Depression gebeutelt wurde, in dem fast eine Million Menschen arbeitslos waren, dessen Regierung wie paralysiert schien und in dem es vor Lasterhaftigkeitdrunter und drüber ging ... Sexverrückte, Serienkiller, Schlägertrupps der Rot- und Braunhemden, die sich um die Kontrolle auf den Straßen prügelten ... diese Stadt, die das Ende der Fahnenstange erreicht hatte, die kein Morgen kannte, die am Rand des Abgrunds taumelte ... der Diktatur ... selbst in dieser Stadt war das ein Bild des blanken Horrors.
Am Rand des Wassers lag ein Mädchen mit dem Gesicht nach oben, von Schlamm und Schlingpflanzen eingehüllt wie Shakespeares Ophelia. Es war eine wunderschöne junge Frau um die fünfundzwanzig. Ihre alabasterfarbene Haut war aufgequollen, aber noch nicht so weit, dass es ihre Gesichtszüge entstellte. Sie wirkte jung, frisch und lebendig, selbst im Tod. Ihre glasigen Augen waren weit geöffnet, schienen warm und dunkel und reflektierten den kalten, deutschen Sonnenuntergang. Die Lippen waren zu einem ruhigen, beinahe triumphalen Lächeln gekräuselt. Als Kraus sich zu ihr hinunterbeugte, spürte er, wie ein alter, verkrusteter Hebel sich in seinem Herzen bewegte, und ihn überkam der Drang, die Arme auszustrecken und das arme Wesen hochzuheben. Um ihre Schultern lag wie eine Toga ein dünner, grauer Baumwollkittel, der ihre großen, runden Brüste entblößte. Kraus bemerkte sofort, dass ihr dunkles Haar viel zu kurz war ... so als wäre sie vor nicht allzu langer Zeit geschoren worden.
Aber was ihm wirklich zusetzte, was ihn traf wie ein Hammerschlag, waren ihre Beine. Sie waren ausgestreckt wie
im Schlaf und wirkten fast übernatürlich missgestaltet. Er hockte sich an den Rand des Wassers, das orangerot glühte. Es stank, und er hielt die Luft an. Ihre Füße waren normal, aber von den Knien abwärts bis zu den Knöcheln schienen die Knochen ... nach hinten zu weisen. Als hätte jemand eine gigantische Zange angesetzt und ihr das Wadenbein herumgedreht.
»Wie eine Meerjungfrau, was?« Schmidt feixte.
»So haben wir sie genannt, Herr Inspektor.« Ein anderer Poliziststellte klar, dass der Witz nicht auf Schmidts Mist gewachsen war. »Fräulein Wassernixe.«
»Schon gut. Ist der Rechtsmediziner schon verständigt worden?«
»Jawohl, Herr Inspektor.« Schmidt salutierte. »Er sollte jeden Moment eintreffen.«
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