Kindersucher - Kriminalroman
ihn nicht einfach ertrinken lassen wollte, blieb Kraus keine Wahl als ihn mit einem harten Schlag auf die Nase ohnmächtig zu schlagen. Nachdem er den schweren Körper seines Kriminalassistenten ans Ufer gezerrt und dann an den Armen auf die Böschung gezogen hatte, setzte er sich neben ihn ins Gebüsch, tropfnass und zitternd. Er rang immer noch nach Luft, als wäre er in einem Traum, und bemerkte, wie zwei rote Polizeiboote von Westen heranrasten und sich in Position brachten. Dann zielten sie mit ihren auf den Booten installierten Maschinengewehren auf das Lagerhaus und eröffneten das Feuer. Gleichzeitig rumpelte ein gepanzerter Lastwagen der Reichswehr über die Straße, auf dem eine Kanone montiert war. Als Kraus das gigantische, schwarze Fahrzeug halten sah und bemerkte, wie die Kanone sich drehte, wurde er aus seiner Betäubung gerissen. Das durften sie nicht tun! Er musste sie aufhalten! Doch bevor er auch nur ein Bein heben konnte, gab es einen furchterregenden Knall. Selbst die Erde unter seinem Körper erzitterte. Das Erdgeschoss des Lagerhauses Maybachufer 146 zerfiel zu Staub.
Kraus brach zusammen, landete mit dem Gesicht auf dem Boden und stieß einen gequälten Schrei aus.
Als die Feuerwehr die Flammen gelöscht hatte, war Kraus der Erste, der mit ihnen das Gebäude betrat. Sie stürmten einen Raum nach dem anderen, fanden jedoch keine Überlebenden. Nur sechs verbrannte Leichen im Erdgeschoss und zwei weitere im ersten Stock. Aber keine Kinder. Als Kraus klar wurde, dassErich und Heinz möglicherweise noch lebten, wäre er fast ohnmächtig geworden.
Eine Stunde später saß er in einem Krankenwagen des Roten Kreuzes, eine Decke über die Schulter gelegt, und trank Kaffee. Er war allein. Gunther war bereits im Krankenhaus, zur weiteren Beobachtung. Aus der Ausrüstung im Lagerhaus, einschließlich des gewaltigen Destillationsapparates, war ganz klar ersichtlich, dass sie eins der größten illegalen Rauschgiftlaboratorien in Europa ausgehoben hatten. Aber nichts davon hatte etwas mit seinem Fall zu tun. Wo auch immer sich die beiden Jungs befanden, hier waren sie jedenfalls nicht gewesen.
»Inspektor.« Ruta steckte ihren Kopf in den Krankenwagen des Roten Kreuzes und keuchte, weil sie so außer Atem war. »Ich bin so schnell gekommen, wie ich konnte. Ein verrückter schwuler Junge ist in Ihrem Büro aufgetaucht. Er hatte Lippenstift und Mascara aufgelegt! Und er wollte Sie unbedingt sprechen. Ich soll Ihnen ausrichten, dass Sie sich mit ihm am Fuß der Berolina treffen sollen – und zwar sofort. Ich soll Ihnen sagen, dass er sie wieder gesehen hat ... die Hirtin.«
EINUNDDREISSIG
Kraus’ Kleidung war noch nicht ganz trocken, als er bereits zwischen Straßenbahnen dahinhetzte, vor Lastwagen über die Straße spurtete und fast wie ein Hürdenläufer über einen Kinderwagen sprang, unrasiert und ungekämmt. Aber es interessierte ihn überhaupt nicht, wie er aussah. Nur ein Gedanke hämmerte in seinem Hirn, toste durch seine Adern. Trieb seine Beine an. Die Jungs. Sie brauchten ihn.
Auf der rechten Seite des Alex schlug die Uhr am Polizeipräsidium Viertel nach elf. Jeder Glockenschlag schien ihm die Kehle fester zuzuschnüren. Direkt vor ihm stieß über den Trümmern des alten Grandhotels die große, kupferne Berolina ihr Schwert in die Luft, umringt von Gerüsten, während sie auf ihre Schutzhaft vorbereitet wurde. Seit ihrer Ankunft auf dem Alexanderplatz hatte sie Jahre des Friedens und des Krieges miterlebt, die Niederlage, die Revolution. Wohlstand und Depression. Welche Seiten im Buch der Geschichte würden umgeblättert werden, während sie in einem Lagerhaus auf den neuen Alexanderplatz wartete?
Kai wartete unter ihren riesigen Zehen auf Kraus. Die goldene Kreole baumelte an seinem Ohr, während er sich forschend umsah. Als der Junge Kraus erblickte, trat er seine Zigarette aus und deutete mit einem beringten Finger in Richtung der Straßenbahnen.
»Die Jungs haben sie in der Lindenpassage gesehen.«
Straßenbahn? Kraus hielt ein Taxi an. Offenbar hatte Kai keine Ahnung, was mit seinem Sohn passiert war.
Auf der Taxifahrt erfuhr er es.
Die Lindenpassage war eine überdachte Einkaufspassage, dieschon bessere Zeiten erlebt hatte. Das Glasdach war voller Algen und Schmutz, und von den Mauern blätterten diverse Farbschichten. Die Passage lockte einen Haufen von schäbigen Figuren in ihr Wirrwarr aus »Seltene-Bücher«-Läden, »Postkarten«-Geschäften und in
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