Kindersucher - Kriminalroman
hatte Kraus noch nie mit ihm geredet, aber die Geduld des Inspektors war am Ende. Er litt selbst zu sehr, und jede Minute war die reinste Qual.
»Mein Sohn und der Sohn meines Nachbarn sind verschwunden. Verstehen Sie das? Können Sie mir helfen, die beiden wiederzufinden? Ich habe jetzt wirklich nicht die Zeit, Sie zu bemuttern.«
Der junge Mann stand auf und wischte sich die Augen. Seine Garderobe war ebenso mitgenommen wie die von Kraus.
»Machen Sie sich nützlich.« Kraus blinzelte. »Gehen Sie zu Ruta und bitten Sie sie, unsere Jacketts zu bügeln oder was auch immer. Hier, nehmen Sie meins mit.« Er knöpfte es hastig auf, wurde langsamer, als ihm Gunther plötzlich leidtat und erweich wurde. »Wir können schließlich nicht herumlaufen, als hätten wir in einem Kanal gebadet.«
Gunther schniefte und versuchte ein zaghaftes Lächeln.
Bevor Kraus sein Jackett ausziehen konnte, wehte eine starke Whiskyfahne durch das Zimmer, der Fritz folgte. Er stürmte förmlich herein, riss sich den Umhang von den Schultern und warf ihn Gunther zu, als wäre der Kriminalassistent ein Kammerdiener. Gunther stand einfach nur da und starrte den Mantel an.
»Ich bin ja so ein Schwachkopf.« Fritz ließ sich krachend auf einen Stuhl fallen. Seine blauen Augen waren gerötet vom Alkohol. »Weil ich dir so einen Ärger mit Vicki eingebrockt habe. Wie dumm von mir! Und dann kann ich mir nicht einmal annähernd vorstellen, was du jetzt durchmachen musst. Der arme Erich!« Fritz legte sich die Hand aufs Herz, griff mit der anderen Hand in seine Jackentasche und zog eine Zigarettendose heraus. »Ich bin so erschüttert, dass ich nicht weiß, was ich sagen soll.« Er zündete sich eine Zigarette an.
»Bitte, Fritz.«
»Ich weiß. Das ist jetzt nicht der richtige Moment für mein schlechtes Gewissen.« Fritz atmete den Rauch aus, nickte verständnisvoll und zupfte sich dabei Tabakkrümel von der Zunge. »Aber hör zu, ich werde es wiedergutmachen. Ich werde dir helfen, diese Kinder zu finden, okay? Du hast mir bei Passchendaele und Cambrai und Soissons und in Rheims den Arsch gerettet, und dann noch in ...«
Der Name jeder einzelnen Schlacht wirkte wie eine Zündschnur in Kraus’ Kopf, bis er einfach explodierte.
»Würdest du jetzt endlich die Klappe halten!« Er sprang auf und starrte mit gerötetem Gesicht seinen alten Kriegskameraden an. Fritz war zwar noch nicht so betrunken, wie er es manchmal sein konnte, aber er war auf dem besten Weg dahin. »Glaubst du wirklich, dass ich ausgerechnet jetzt Lust habe,mir Kriegsgeschichten aus Passchendaele und Cambrai anzuhören? Mein Sohn ist seit zwanzig Stunden in den Händen einer Psychopathin. Ich muss ihn retten.«
Als Kraus die Gesichter von Fritz und Gunther sah, sagte er sich, dass er besser seinen eigenen Rat befolgen und die Klappe halten sollte, aber das konnte er nicht.
»Von dem Augenblick seiner Geburt an«, Kraus holte tief Luft, »haben Vicki und ich alles Menschenmögliche getan, um dafür zu sorgen, dass er behütet und geliebt wird und gesund und sicher aufwächst. Und jetzt, in nur wenigen Tagen, wie aus dem Nichts ...« Seine Stimme brach. »Solche Verletzungen. Erst diese verdammten Nachbarn und jetzt ...« Er schluckte. »Jede Sekunde sind diese Jungs ... O mein Gott, wenn sie auch nur ...!«
Er sank an seinem Schreibtisch zusammen, vergrub den Kopf zwischen den Händen und wurde von einem Weinkrampf geschüttelt. Sein ganzer Körper zuckte, seine Schultern verkrampften sich, Tränen traten ihm aus den Augen. Jede Faser seines Körpers zitterte um seinen Sohn.
Äußerlich gab er allen anderen, nur nicht sich selbst die Schuld. Aber tief in seinem Innersten hegte er keinerlei Illusionen, bei wem die Schuld lag. Er hatte sich immer, jedenfalls in seiner Vorstellung, als liebendes Elternteil aufgespielt und insgeheim Leute wie Ottos Schwager für ihre perversen Erwartungen und seelenzermarternden Grausamkeiten kritisiert. Aber wenn er Erich wirklich so sehr geliebt hätte, dann wäre der Junge doch jetzt in Sicherheit – oder etwa nicht?
Eine feste Hand packte seine Schulter. Fritz kauerte neben ihm.
»Willi, auf meine etwas dümmliche Art und Weise habe ich versucht, dir zu sagen ... Hier, ich meine diesen Brief.«
Fritz zog etwas aus seiner Jacke und wedelte damit herum.
»Du kennst doch meine Freundin, die Baroness. Natürlichkennst du sie, sie war im Admiralspalast, an jenem Abend, als wir Josephine Baker gesehen haben. Jedenfalls ist ihre Schwester
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