Kindersucher - Kriminalroman
ist.«
»Was meinen Sie mit ›wann genau‹?«
»Der Tag, der Monat. Ganz gleich, irgendetwas.«
»Oh, warum quälen Sie mich so?« Helga legte die Hand an ihre Kehle. »Ich weiß ja kaum, welches Jahr wir gerade haben.« Sie ballte die Fäuste und seufzte, dann riss sie die Augen weit auf. »Sekunde, es war am Ende der Inflation. Welches Jahr war das, 1924, richtig? Das muss es gewesen sein. Jetzt bin ich mir sicher. Man hatte gerade die Reichsmark eingeführt, und Ilse brachte uns Steaks mit, um zu feiern. Wir hatten noch nie so saftige Fleischstücke gesehen.«
Das Gedächtnis war tatsächlich unergründlich. Kraus kritzelte alles in sein Notizbuch. Alles lagerte dort, irgendwo. Und wurde manchmal höchst willkürlich aufgerufen. Aber war es wirklich willkürlich?
»Also gut, dann ... Wie war der Name dieser Stadt?«
Helga hielt sich den Bauch, das Gesicht verzerrt, so als wäre ihr Blinddarm geplatzt. »Ich habe nie herausgefunden, wo genau es war, aber es muss irgendwo in der Provinz gewesen sein. Ihrem Akzent nach vermute ich in Sachsen. Aber wann immer sie die Stadt erwähnte, sprach sie mit dieser seltsamen, unheimlichen Stimme, wie eine Aufziehpuppe, als würde sie einen Fluch ausstoßen ... Niedersedlitz ... Niedersedlitz. Einmal hat sie mir erzählt, der Teufel selbst wäre aus der Hölle direkt dorthin gezogen.«
Helga umklammerte ihre Brust, taumelte und fiel mit einem unterdrückten Schrei gegen Kraus, als würde sie Ilse hier auf dem Friedhof sehen, wie sie ein blutiges Messer schwang. »Halten Sie sie mir bloß vom Leib!«
Kraus musste sie bis zum Auto begleiten. Zoltan hielt ihr den Wagenschlag auf. Bevor sie einstieg, packte Helga Kraus’ Revers. »Mein Gott, Kraus.« Ihre Stimme war heiser vor Furcht. »Wenn diese verrückte Hexe jemals herausfindet, dass ich mit Ihnen darüber geredet habe ... Sie müssen sie einfach schnappen!«Es gab tatsächlich eine Stadt namens Niedersedlitz in Sachsen, südlich von Deutschlands wunderschöner Kunst- und Musikstadt an der Elbe, Dresden. Kraus und Gunther fuhren gleich am nächsten Morgen mit dem Zug dorthin. Vicki war nicht gerade begeistert, zu hören, dass er sie mit den Kindern allein ließ, obwohl sie gar nicht alleine war, weil ihre Schwester Ava zu Besuch kam. Als er sich mit einem Kuss verabschieden wollte, hielt sie ihm nur die Wange hin. Er wurde wütend und fragte sie, ob er sie unter Polizeischutz stellen sollte. Sie antwortete nicht, und er ging. Kraus wusste, dass sie eine melodramatische Ader hatte, genau wie ihre Mutter. Ihre Reaktion war übertrieben, aber trotzdem fühlte er sich lausig, weil er sie aufgeregt hatte. Andererseits fühlte er sich nicht schlecht genug, um zu bleiben.
Als sie Sachsen erreichten, glitt das fruchtbare Ackerland an den Fenstern des Speisewagens vorüber.
»Das ist wie die Suche nach der sprichwörtlichen Nadel in einem Heuhaufen«, nuschelte Gunther, während Brötchenkrümel aus seinem Mund fielen. »Schlimmer noch. Wir wissen nicht einmal, ob es überhaupt eine Nadel gibt.«
»Na ja, der Knochen kommt nicht zum Hund, Gunther. Und besser einäugig sein als blind.« Kraus schätzte den Eifer seines Assistenten, allerdings nicht unbedingt dessen Tischmanieren. »Was harte Tatsachen angeht, haben wir nicht sonderlich viel in der Hand. Aber ein guter Kriminalbeamter muss versuchen, selbst die schwierigsten Puzzleteile zusammenzufügen. Und wenn Sie genauer darüber nachdenken: So schlecht sind wir gar nicht dran. Niedersedlitz, der ›Heuhaufen‹, wie Sie das Dorf genannt haben, ist nicht sonderlich groß. Wir wissen, dass Ilse ihre Heimatstadt glühend gehasst hat, als sie achtzehn war. So sehr, dass sie Helga verraten hat, dass sie die Welt von den Einwohnern befreien wollte. Und dass der Teufel selbst von der Hölle dorthin gezogen wäre. Das ist doch eine ziemlichextreme Haltung gegenüber seiner Geburtsstadt, finden Sie nicht auch?«
Gunther nickte mit großen Augen und kaute. »Ich fand es nur schrecklich, wie hässlich die Mädchen in meinem Dorf waren.«
»Ganz offenbar ist für Ilse dieser Ort mit einem langen Trauma verbunden, wahrscheinlich wurde sie als Kind verprügelt, ohne dass jemand ihr helfen konnte. Falls der Ochse wirklich ihr Bruder ist, suchen wir keineswegs eine Nadel, sondern zwei sehr perverse Geschwister. Und wenn sie tatsächlich in dieser Kleinstadt aufgewachsen sind, wird sich irgendjemand in Niedersedlitz gewiss an sie erinnern.«
»Wissen Sie, Chef«, Gunther schluckte
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