Kindersucher - Kriminalroman
schwer, »ich lerne in einer Stunde mehr von Ihnen, als ich aus all meinen Lehrbüchern zusammen gelernt habe.«
Dresden, Deutschlands Elbflorenz, war eine Märchenstadt aus Schokolade und Porzellan, aus Wagner und Strauss. Es gab riesige barocke Kathedralen und Paläste. Der lange, gläserne Hauptbahnhof aus dem Jahr 1892 war einer der schönsten in ganz Europa. Aber als ihr Zug dort einlief, quoll die Haupthalle von verstaubten, bedrückten Gestalten förmlich über. Die Arbeitslosen. Vor dem Bahnhof verteilten miteinander wetteifernde Reihen aus uniformierten Nazis und uniformierten Kommunisten Wahlkampfmaterial an jeden, der vorbeiging. Kraus und Gunther mussten einen echten Spießrutenlauf absolvieren, um die Bahnlinie sechs zu erreichen.
Vierzig Minuten später saßen sie in einer kleinen grünen Straßenbahn, die durch Niedersedlitz ratterte. Die Kleinstadt war ein malerischer Mix aus Weiden und Schwerindustrie, aus weiten Feldern mit goldenem Roggen, die kilometerlang von Fabrikgebäuden gesäumt wurden. Im Stadtzentrum stiegen sie aus und liefen direkt zum Rathaus. Zuerst gingen sie in das Einwohnerarchiv.
Der blasse Angestellte am Tresen blickte nicht einmal hoch, als Kraus ihn fragte, wie sie Gerbereien oder lederverarbeitende Betriebe finden könnten und ob es noch Unterlagen über Kindesmissbrauch von vor zwanzig Jahren gab.
»Zimmer 2D, Handel und Industrie. Die Gerichtsakten befinden sich unten in ...« Der Mann hielt inne, um nachzusehen, wer eine solche Frage stellte. Die Nadel mit dem Hakenkreuz loderte förmlich auf seinem Revier. »Juden sind hier nicht zugelassen.« Er sah wieder auf seine Papiere.
Gunther riss die Augen auf. »Was haben Sie gerade gesagt?«
»Das haben Sie doch gehört: keine Juden.«
»Sie Mistkerl!« Kraus war entsetzt, als sich Gunther über den Tresen beugte und drohte, den Angestellten am Kragen zu packen. Sein Gesicht war vor Wut gerötet. »Sie reden mit einem Beamten der Berliner Kriminalpolizei, der an einem Fall von nationaler Bedeutung arbeitet. Falls Sie also nicht scharf darauf sind, Ihren Hintern über glühenden Kohlen rösten zu lassen ...«
Der Mann ließ sie herein. »Genau das, was in dieser Republik stinkt«, murmelte er jedoch laut genug, dass sie ihn hören konnten. »Jüdische Polizisten.«
»Schon gut.« Kraus hielt Gunther zurück. Er freute sich über die Unterstützung seines Assistenten, auch wenn er das nicht zeigte. Und erneut gefiel ihm Gunthers Eifer weit mehr als dessen Finesse. Die Sachsen waren für ihre Engstirnigkeit bekannt. Außerdem blieben Gunther und ihm nur vierundvierzig Stunden für ihre Recherchen. Die Zeit reichte nicht, um sich mit den örtlichen Nazis herumzuprügeln. »Sie gehen nach unten; ich gehe nach oben.«
Der schnurrbärtige Beamte im Raum 2D, Herr Eisenlohr, hätte Kraus dagegen fast die Füße geküsst, als er erfuhr, dass er ein Kriminalbeamter aus Berlin war.
»O ja, Herr Kriminalsekretär. Da haben wir es schon.« Erverbeugte sich wie ein Kellner, der die Spezialität des Hauses servierte, als er Kraus einen ledergebundenen Folianten reichte. Bedeutende Industrie in Niedersedlitz – 1900 bis zur Gegenwart.
Kraus hatte jedoch das riesige Buch kaum aufgeschlagen, als Gunther schon wieder neben ihm stand.
»Das Fräulein vom Gerichtsaktenarchiv sagt, sie bräuchte einen besonderen Schlüssel, um den Schrank mit den Polizeiakten zu öffnen. Und der zuständige Beamte, der das erlaubt, ist gerade ...«
»Gunther«, unterbrach Kraus ihn. »Für so etwas habe ich keine Zeit. Lösen Sie das Problem einfach.« Er blätterte die Liste der Schlüsselindustrien durch. »Wir brauchen Einsicht in diese Akten.«
Gunther blieb regungslos stehen.
Kraus blickte hoch. »Erinnern Sie sich an das Kripohandbuch? Außer Zuverlässigkeit und Unbestechlichkeit besitzt der ideale Kriminalbeamte auch Findigkeit. Mit anderen Worten, mein Junge, benutzen Sie Ihr Gehirn.«
Gunther grinste etwas verlegen und trottete davon.
Kraus blätterte derweil den Folianten durch und sah, dass es in Niedersedlitz Fabriken für Kühlschränke, Lokomotiven, weltberühmte Kameras und Makkaroni gab, aber keine Gerbereien oder lederverarbeitenden Betriebe. Jedenfalls nicht mehr. Mehrere Jahrzehnte lang war hier eine einzige erwähnenswerte Firma ansässig gewesen. Aber die Vereinigten Lederwerke waren 1916 abgebrannt, in jenem schrecklichen »Rübenwinter«, auf dem Höhepunkt des Krieges. Ein Sternchen neben dem Eintrag fiel ihm in die Augen.
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