Kindersucher - Kriminalroman
Offenbar war der Vorarbeiter der Firma für schuldig befunden worden, den Brand gelegt zu haben, und war zu zwanzig Jahren Zwangsarbeit verurteilt worden. Kraus holte tief Luft, klappte den Folianten zu und beschloss, weitere Nachforschungen im Souterrain anzustellen. Außerdem wollte er sehen, wie Gunther sich schlug.
Offenbar nicht schlecht.
Im Flur des Untergeschosses lief eine große, etwas derbe junge Frau an ihm vorbei, die Gunthers Zwilling hätte sein können. Sie glättete hastig ihr Haar und verschwand auf der Damentoilette. Als Kraus ins Archiv mit den Gerichtsakten trat, blickte Gunther hoch und unterdrückte ein Grinsen.
»Auftrag ausgeführt.« Er hielt einen Schlüsselbund hoch, ohne auf den Lippenstift auf seinem Mund zu achten. Offenbar hatte der Junge sich ein Herz gefasst. Und Kraus brachte es nicht fertig, ihm ausgerechnet jetzt einen Vortrag über Diskretion zu halten.
Gunthers neu entdeckte Findigkeit förderte jedoch bedauerlicherweise nur wenige Resultate zu Tage – da half nicht einmal die Hilfe seiner neuen Freundin Ingeborg. Sie fanden viele Akten über Kinder, die von Autos angefahren, in Brunnen ertrunken oder von umherziehenden Fremden ermordet worden waren. Aber in den zahlreichen Polizeiakten der letzten zwanzig Jahre fand sich kein einziger Bericht, der davon gehandelt hätte, dass ein Kind von seinen eigenen Eltern verletzt worden wäre. Was nicht sonderlich überraschend war, sagte sich Kraus. Selbst in Berlin wurden solche Fälle erst seit kurzer Zeit gemeldet. Trotzdem, und darüber hatte Kraus die ganze Zeit nachgedacht, niemand anders als ein Familienmitglied konnte dieser »Teufel« sein, den die Hirtin so hasste. Nichts in den Unterlagen jedoch gab irgendeinen Hinweis. Vielleicht waren die Ursprünge ihres Traumas rein psychotischer Natur.
Nachdem Ingeborg sich wieder frisch gemacht hatte, durchsuchte sie die Geburtsanzeigen nach den Informationen, die die Hohepriesterin Helga ihrer Erinnerung abgerungen hatte. Sie förderte schließlich eine Liste mit sieben Mädchen namens Ilse zutage, die zwischen 1905 und 1907 geboren worden waren. Aber es stand ja nicht einmal fest, dass die Hirtin überhaupt in Niedersedlitz geboren worden war. Da sie keinenNachnamen kannten, spielte das ohnehin keine große Rolle. Kraus überflog die Liste dennoch immer wieder. Schließlich schob er sie seufzend beiseite. Jedes dieser Mädchen hätte die Hirtin sein können; möglicherweise war aber ihre ganze Mühe auch reine Zeitverschwendung. Es war alles nur Glücksache.
Nach einer weiteren Stunde Suche wusste er, dass es reiner Zufall gewesen wäre, überhaupt eine Akte über den Brand in den »Vereinigten Lederwerken« zu finden. Jemand hatte ganz offenbar die Dokumente manipuliert. Ein Prozess musste doch Akten hervorgebracht haben. Ingeborg rief Herrn Eisenlohr zu Hilfe, aber der Mann raufte sich nur die Haare, weil er nicht weiter behilflich sein konnte.
»Wenn ich auch nur einen winzigen Hinweis hätte, Herr Kriminalsekretär, Gott helfe mir, dann würde ich Ihnen den auf einem goldenen Teller servieren. Aber ich kann Ihnen nur eines sagen: Während des Krieges wurde alles, was auch nur annährend auf zivile Sabotage deutete, von den Militärbehörden entfernt. Diese Akten könnten irgendwo bei den Liebesbriefen des Kaisers vergraben sein.«
»Wir könnten es im Gefängnis versuchen.« Gunther zählte an seinen Fingern ab. »Er müsste noch ... zwölf Jahre seiner Strafe verbüßen.«
»Die Frage ist, in welchem Gefängnis«, überlegte Kraus laut. »In einer Stadt von der Größe Dresdens muss es mindestens ein halbes Dutzend Gefängnisse geben. Wir haben nicht einmal einen Namen, nach dem wir fragen können. Aber vielleicht ...« Er richtete sich auf. »Die Lokalzeitung. Sie muss darüber berichtet haben. Ich wette, dass sie dort Archive haben.«
»Hervorragend kombiniert.« Eisenlohr applaudierte. »Aber Sie sollten sich besser beeilen; hier schließt alles pünktlich um siebzehn Uhr.«
Die Büros vom Niedersedlitzer Beobachter lagen jedoch etliche Häuserblocks vom Rathaus entfernt, und als sie dortankamen, war es eine Minute nach siebzehn Uhr. Ein kahlköpfiger Mann mit einem langen Schnauzbart stand zwar auf der anderen Seite der Tür, weigerte sich jedoch, sie hereinzulassen, selbst als Kraus seine Dienstmarke zückte. Sie sahen zu, wie er seinen Hut aufsetzte, durch die Hintertür hinausging und dann über die Straße davoneilte. Kraus spielte mit dem Gedanken, ihm
Weitere Kostenlose Bücher