Kindersucher
Er musterte verzweifelt alle Jungen, die heruntergetragen wurden. Wo zum Teufel war Heinz? Der ganze Raum war nun von Rauch erfüllt, Flammen leckten über die Decke. Kraus sog so viel Luft in seine Lungen, wie er konnte, und stürzte sich dann wieder in den Saal.
Es war fast unmöglich, irgendetwas zu erkennen. Seine Schädeldecke fühlte sich an, als würde sie gleich in Flammen aufgehen. Aber im letzten noch belegten Bett fand er den Jungen, den er fast wie einen dritten Sohn mit großgezogen hatte, riss hastig die Schläuche mit dem Schlafmittel heraus und packte ihn. Heinz war so schlaff wie eine Puppe. Voller Freude rannte Kraus mit dem Jungen im Arm die Treppe hinab und stellte sich die Dankbarkeit in den Gesichtern der Winkelmanns vor, weil ihr Heinz gerettet war. Dann würden sie sich schämen, weil sie Kraus und seine Familie so mies behandelt hatten!
Mittlerweile konnte niemand mehr den Turm betreten. Selbst die Feuerwehrleute gaben es auf, das Feuer zu löschen. Auf der Straße nahmen Sanitäter den Beamten die Kinder aus den Armen und fuhren sie in Krankenhäuser, während Schaulustige hinter hastig errichteten Sperren das feurige Spektakel beobachteten. Als Kraus in einem der Krankenwagen, eingekeilt zwischen Erich und Heinz, davonfuhr, warf er einen Blick aus dem Fenster. Der ganze obere Teil des Wasserturms loderte wie eine Fackel, die das schreckliche Vermächtnis des Dr. von Hessler für alle Ewigkeit dahinraffte.
Zum ersten Mal seit langer Zeit atmete Kraus leichter.
DREIUNDDREISSIG
Auf einem terrassenförmigen Hügel im ältesten Park der Stadt, dem Volkspark Friedrichshain, stand der Märchenbrunnen, Berlins größtes Denkmal für die Kindheit. Ein Wasserbecken mit vier Kaskaden war von neobarocken Arkaden umringt, die eine verzauberte Welt bildeten, voll von Travertinstatuen aus den Märchen der Gebrüder Grimm: Aschenputtel, Hänsel und Gretel, Rotkäppchen ... ein bürgerlicher Schrein für Jugend und Fantasie, der vor dem Krieg mit großem Pomp enthüllt worden war. Kraus konnte sich noch sehr genau daran erinnern, wie er ihn das erste Mal mit seiner Schwester Greta besucht hatte. Damals war er achtzehn gewesen, hatte bereits die Aufnahmeprüfungen zur Universität absolviert, hielt jedoch die Ergebnisse noch nicht in Händen. Das war ein recht unangenehmer Schwebezustand auf seinem Lebensweg gewesen, wenn auch nicht zu vergleichen mit dem, was noch kommen sollte. Greta und er hatten Stunden in diesem Park verbracht, hatten die Statuen begutachtet und ihre Hände in die Becken gehalten, während Erinnerungen an die Zeit, als ihr Vater ihnen Märchen vorgelesen hatte, sie Mutters Kekse gegessen und lange Spaziergänge im Tiergarten unternommen hatten, sie überfluteten.
Als Kraus jetzt die Gesichter seiner Kinder betrachtete, wurde er jedoch nicht in die Vergangenheit zurückversetzt, sondern in die sonnige Gegenwart. Er vermochte das Glück nicht in Worte zu fassen, das er empfand, als er seine beiden Söhne wieder miteinander spielen sah, ihr Gelächter hörte, während sie mit den Wasser speienden Froschstatuen spielten. In einem Punkt hatte von Hessler recht behalten: Erich konnte sich nicht an seine Entführung erinnern. Nur noch an den Eiswagen, der neben ihnen angehalten, und an die Hände, die nach ihm gegriffen hatten. Dann war er erschöpft im Bett aufgewacht. Es blieb abzuwarten, welche Langzeitfolgen dieses Erlebnis zeitigen würde. Aber nach einem Monat war er anscheinend wieder vollkommen erholt und heiter. Wenn Kraus das doch nur von sich selbst auch hätte sagen können.
Es war ein warmer Oktobersonntag. Vicki und er saßen nebeneinander auf einer Bank am Springbrunnen, ohne einen Gedanken darauf zu verschwenden, ob sie zu spät zum Geburtstag ihres Großvaters kamen oder die Jungs sich möglicherweise beim Spielen ihre Hosen schmutzig machten. Das wäre vor einem Monat noch anders gewesen. Diese Tortur, die sie hatten durchmachen müssen, hatte ihnen beiden die Vergänglichkeit des Lebens bewusster gemacht. Jetzt saßen sie nebeneinander und atmeten gleichmäßig im herbstlichen Sonnenschein. Nur Kraus’ Berühmtheit störte den Frieden.
»Inspektor Kraus, hab ich recht? Wie wundervoll! Würden Sie für ein Foto mit mir und meiner Frau posieren?«
Nachdem von Hessler hinter Gitter gebracht und der Rest des Falles öffentlich gemacht worden war, war Kraus zum berühmtesten Kriminalbeamten von Deutschland geworden. Sein Gesicht tauchte nicht nur in
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