Ist Gott ein Mathematiker
Kapitel 1
EIN MYSTERIUM
Vor einigen Jahren hatte ich eine Vorlesung an der Cornell University zu halten. Auf einer meiner PowerPoint-Folien prangte die Frage: «Ist Gott ein Mathematiker?» Kaum erschien sie auf der Leinwand, hörte ich einen Studenten in der ersten Reihe nach Luft schnappen: «Gott, ich hoffe nicht!»
Nun sollte meine rhetorische Frage aber weder meinen Zuhörern eine philosophische Definition von Gott aufnötigen, noch hatte ich vor, auf hinterhältige Weise Leute zu düpieren, die sich vor der Mathematik fürchten. Ich wollte lediglich die Sprache auf ein Mysterium bringen, das die Jahrhunderte hindurch einige der hellsten Köpfe beschäftigt hat – die offenkundige Allgegenwart und Allmacht der Mathematik. Beides sind Eigenschaften, die man in aller Regel mit einer Gottheit assoziiert, wie der britische Physiker James Jeans (1877–1946) einst sinnierte: «Das Universum scheint von einem Vollblutmathematiker entworfen.» Nicht nur zur Beschreibung und Erklärung des Kosmos im Großen, sondern auch im Zusammenhang mit den chaotischsten Unterfangen des Menschen scheint die Mathematik in beinahe übernatürlicher Weise tauglich zu sein.
Ob nun Physiker darangehen, Theorien des Universums zu formulieren, Marktanalysten sich den Kopf darüber zerbrechen, wann der nächste Börsenkrach zu erwarten ist, Neurobiologen Modelle für die Funktion von Gehirn und Nervensystem entwerfen oder Statistiker des militärischen Geheimdienstes Betriebsmittelzuweisungen zu optimieren versuchen – sie alle bedienen sich der Mathematik. Damit nicht genug, bedienen sie sich, auch wenn sie Formeln und Gesetze anwenden, die in verschiedenen Zweigen der Mathematik entwickelt wurden, doch alle derselben, auf der ganzen Welt einheitlichen Mathematik.Was ist es, das der Mathematik solch unglaubliche Macht verleiht? Oder, wie Einstein sich einst fragte: «Wie ist es möglich, dass die Mathematik, die doch ein
von aller Erfahrung unabhängiges
[die Kursivierung ist von mir] Produkt des menschlichen Denkens ist, auf die Gegenstände der Welt so vortrefflich passt?»
Derlei andächtiges Staunen ist nicht neu. Einige der Philosophen des antiken Griechenlands – allen voran Pythagoras und Platon – waren bereits voller Ehrfurcht für die der Mathematik augenscheinlich innewohnende Fähigkeit, das Universum nach ihren Regeln zu formen und zu lenken, obwohl sie offenbar jenseits aller menschlichen Macht, sie zu ändern, zu bestimmen oder zu beeinflussen, existiert. Der politische Philosoph Thomas Hobbes (1588–1679) aus England konnte seine Bewunderung ebenfalls nicht verbergen. In seinem
Leviathan,
Hobbes’ ungemein eindrucksvollem Werk über das, was er als Grundlagen einer Gesellschaft und ihrer Regierung betrachtet, führt er die Geometrie als Lehrbeispiel für rationales Argumentieren an:
Weil nur die Wahrheit in der richtigen Zusammensetzung der Worte, womit wir etwas bejahen wollen, besteht, so muß der Wahrheitsfreund sich der Bedeutung seiner jeweiligen Worte bewusst sein und sie regelmäßig ordnen; sonst wird er sich ebenso verwickeln wie ein Vogel, der sich auf der Leimrute desto fester anklebt, je emsiger er sich davon losmachen will. Deshalb macht man in der Geometrie, die vielleicht die einzige gründliche Wissenschaft ist, den Anfang des Unterrichts damit, daß man die Bedeutung der dabei zu gebrauchenden Wörter genau bestimmt, das heißt mit anderen Worten: man schickt eine Definition voran.
Jahrtausende hochkarätiger mathematischer Forschungen und gelehrter philosophischer Spekulationen haben relativ wenig Licht in die rätselhafte allumfassende Erklärungsmacht von Mathematik zu bringen vermocht. Das Geheimnis ist eher noch ein Stück undurchdringlicher geworden. Der renommierte Mathematiker und Physiker Roger Penrose aus Oxford beispielsweise sieht darin inzwischen nicht mehr nur ein einfaches, sondern vielmehr ein dreifaches Mysterium. Penrose unterscheidet drei verschiedene «Welten»: die Welt unserer bewussten Wahrnehmung, die physikalische Welt und eine platonische Welt dermathematischen Formen. Die erste Welt ist die Heimat all unserer mentalen Bilder – wie wir die Gesichter unserer Kinder wahrnehmen, einen atemberaubenden Sonnenuntergang empfinden oder auf die entsetzlichen Bilder eines Krieges reagieren. Dies ist auch die Welt, in der Liebe, Eifersucht und Vorurteile ihren Sitz haben, ebenso unsere Wahrnehmung von Musik, des Geruchs von Essen und von Angst. Die zweite Welt ist jene, die wir
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