Kindersucher
vor sich hin. »Ein guter Wurstfabrikant stellt dieselben hohen Ansprüche an den Inhalt seiner Wurst wie ein Winzer an seinen Wein.« Für Kraus’ Kopfschmerzen war jedoch nicht nur die Eigenwerbung des Würstchenkönigs verantwortlich. Oder seine widerlichen Witze. Es war eine ausgesprochen anstrengende Woche gewesen.
Mittlerweile konnte man die Listeria monocytogenes für ein Dutzend Todesfälle verantwortlich machen. Nahezu tausend Leute in ganz Berlin waren von dieser infizierten Wurst krank geworden, einige davon ernsthaft. Und immer noch war das Gesundheitsministerium nicht einmal annähernd erfolgreich bei seinen Versuchen, die Bedrohung in den Griff zu bekommen. In der Stadt waren Dutzende von Firmen und Tausende von Schlachtern mit der Produktion, Verteilung und dem Verkauf dieses deutschen Grundnahrungsmittels beschäftigt. Den Ursprung der Vergiftung über Einzelhändler, Großhändler, Lieferanten und Schlachthöfe zurückzuverfolgen ... war der reinste Albtraum.
»Und natürlich das Sortiment. Die Vielfalt ist endlos ...«
Außerdem musste Kraus praktisch eine Lehre in der Wurstproduktion absolvieren, um die Möglichkeit eines kriminellen Hintergrundes einschätzen zu können.
»Es gibt frische Wurst.« Strohmeyer zählte die Produkte an den Fingern ab. »Geräucherte Wurst, trockene Wurst, halbtrockene Wurst.«
Das war ungefähr so viel, wie ein Kripobeamter schlucken konnte.
»Ganz zu schweigen von den verschiedenen Därmen. Schwein, Schaf, Rind.«
Kraus konnte sich einfach des Gefühls nicht erwehren, dass er von einem wichtigen Fall, einem mehrfachen Mord, abgezogen worden war und man ihm stattdessen eine Tube Schweineschmalz in die Hand gedrückt hatte.
»Aber man darf nicht unterschätzen, was so alles in die Wurst kommt.« Strohmeyer grinste Kraus feierlich an. »Die Wurstherstellung ist eine uralte Kunst, Herr Kriminalsekretär. Nachdem man das Fleisch geschnitten, gemahlen und gemischt hat, muss man zuerst ...«
Kraus’ Gedanken flohen wieder zu diesem Jutesack. Welcher Spur folgte Freksa bei seinen Ermittlungen? Folgte er dem Weg des Sacks durch die Kanalisation zurück? Und was war mit dieser Notiz der Bibliothek über völlige Verderbtheit, die er an ihn weitergegeben hatte? Freksa hatte nicht geantwortet. Seine Gefühle Kraus gegenüber waren kein Geheimnis. Aber er würde doch nicht seine Ermittlungen durch Vorurteile beeinflussen lassen, oder?
»Natürlich muss jede Füllung höchsten Ansprüchen an Qualität genügen und außerdem das richtige Verhältnis von Fleisch und Fett aufweisen. Wenn nicht«, Strohmeyer senkte die Stimme, als hätte er Angst, einen Fluch heraufzubeschwören wenn er laut sprach, »versetzt man der Wurst den Todesstoß.«
Was für eine ironische Formulierung, dachte Kraus angesichts dessen, wie vielen Menschen ein solcher Todesstoß von der Wurst seiner Familie versetzt worden war. Trotzdem konnte er das Jammern des Mannes nachvollziehen. Die Strohmeyer-Fabrik lag gegenüber dem riesigen Centralvieh- und Schlachthof an der Landsberger Allee und beschäftigte beinahe einhundert Arbeiter. Viele von ihnen standen herum und beobachteten, wie ihr Boss schon wieder einen Beamten herumführte. Die gewaltigen Mahlwerke, die Industriemischer, die Schneidemaschinen, die Fleischwölfe, die riesigen Füllmaschinen ... all die standen still. Die Löhne waren eingefroren. Fleischindustrie und Gewerkschaften standen dieses eine Mal auf derselben Seite und kämpften im Augenblick darum, das stadtweite Wurstverbot von den Gerichten aufheben zu lassen. Es war leicht, mit ihrem Anliegen zu sympathisieren. Aber Kraus stellte sich immer wieder die Mutter der Sechsjährigen vor, die er Anfang der Woche befragt hatte ...
»Wir dachten, sie hätte nur eine Magenverstimmung.« Die Frau faltete unaufhörlich einen kleinen Pullover in ihrem Schoß, strich mit ihrer Handfläche darüber. »Wir haben sie sogar zur Schule geschickt.« Ihre Stimme war so heiser, dass sie kaum zu verstehen war; wie damals, als Vicki eine Kehlkopfentzündung gehabt hatte. »Aber in dieser Nacht war der Durchfall so schrecklich.« Kraus hatte sich geschüttelt bei dem Gedanken, dass so etwas einem seiner Jungs zustoßen könnte. »Sie hatte Blut im Stuhl. Und dann das Fieber ... und diese Krämpfe. Wir haben sie ins Krankenhaus gebracht, aber ...« Sie drückte den Pullover an ihren Hals.
Im Laufe der Jahre hatte er mehr als eine Befragung mit trauernden Eltern durchgeführt. Aber noch nie hatte er
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