Kindersucher
Richtlinie. Das Problem war jedoch, wie Kraus erfahren hatte, dass viele Schlachter erst gar nicht an Produzenten verkauften, die auf solch strikte Tests bestanden. Deshalb hatten die Fleischverarbeiter die Dinge ein wenig schleifen lassen. Gemäß seines eigenen Sicherheitsprogramms hatte sich Strohmeyer 1910 verpflichtet, Zertifikate von allen Lieferanten zu verlangen, die bewiesen, dass keine Bakterien in den gekauften Partien zu finden waren. Nur hielt sich Strohmeyer nicht an seine eigenen Regeln. Für die gesamten Zwanzigerjahre konnte die Firma kein einziges Sicherheitszertifikat vorweisen. Kraus hatte es überprüft. Er hatte jeden einzelnen Ordner in den Unterlagen der Firma durchgesehen. Seit 1919 gab es kein einziges Zertifikat.
»Sind wir perfekt?«, fragte Strohmeyer. »Nein. Aber wir zeigen zumindest, dass wir uns ständig verbessern.«
Höchstwahrscheinlich läuft es auf sträfliche Fahrlässigkeit hinaus, dachte Kraus.
»Und wir werden auch nicht stehenbleiben. Sobald die Produktion wieder anlaufen kann, wird die Strohmeyer A. G. die aggressivsten Maßnahmen ergreifen, um die Sicherheit unserer Produkte zu gewährleisten. Aber, und dazu habe ich das Gesundheitsministerium bereits gedrängt ... die Bemühungen müssen verstärkt werden, diese Seuche zu den Schlachthöfen zurückzuverfolgen. Dort liegt die Quelle.«
Jeder liebte es, mit dem Finger auf jemand anderen zu zeigen.
Zumindest stimmt es, dachte Kraus, dass hier bei Strohmeyer kein Anzeichen von Listerien aufgetaucht ist. Auch wenn die Firma vollkommen willkürlich getestet hat. Große Partien gingen vollkommen ungeprüft aus dem Haus. Aber die Regierungsinspektoren hatten die Firma vollkommen auf den Kopf gestellt, als man die Quelle für die Listerien in der Wurst gefunden hatte, und sie hatten nichts gefunden. Kraus begriff jetzt, warum so etwas Zeit benötigte ... weil Listerien so unglaublich resistent waren. Einige Wissenschaftler behaupteten, diese Bakterien könnten sich unter besonders großen Stressbedingungen tatsächlich in eine Art Tiefschlaf versetzen. Das bedeutete, Testresultate waren nur über eine längere Zeit hinweg aussagekräftig. »Sie müssen säubern, prüfen, säubern, prüfen ...«, hatte Frau Dr. Riegler bei ihrem ersten Treffen gesagt. Laut ihrer Aussage würden die Listerien höchstwahrscheinlich wieder hier auftauchen, weil sie mit ziemlicher Sicherheit hier vorgekommen waren. In neun von zehn Fällen – das Auge der Frau Doktor zuckte heftig bei diesen Worten – konnte man die vergiftete Wurst direkt zur Strohmeyer Wurst A. G. zurückverfolgen. Was aber nicht bedeutete, dass die Infektion dort ihren Anfang haben musste.
Welchen Weg diese Kreaturen zurückgelegt hatten, mussten Wissenschaftler herausfinden. Kraus folgte einfach nur seinem Bauchgefühl. Nachdem er all diese Stunden dem Wurstkönig zugehört hatte, vermittelte ihm sein Bauch Folgendes: Strohmeyer fügte der Wahrheit ebenso bereitwillig Zusatzstoffe hinzu wie seiner Wurst.
Es wurde Zeit, tiefer zu bohren.
»Würde Ihre Firma, um Kosten zu reduzieren«, Kraus warf dem Mann einen flüchtigen Seitenblick zu, »möglicherweise auch außerhalb des Marktes Fleisch von, sagen wir, einem nicht konzessionierten Händler erwerben?«
Strohmeyer senkte eine Braue. »Herr Kriminalsekretär. Strohmeyer ist ein Familienbetrieb. Seit 1892.«
»Ja, selbstverständlich.« Kraus hob eine Hand. »Ich frage nur, weil es meine Pflicht ist.«
Draußen hatte sich der Himmel zugezogen, als wollte es regnen. Kraus knöpfte sich den Mantel zu und warf einen Blick über die Straße. Lastwagen und Pferdefuhrwerke drängten sich vor den endlos langen Schuppen der Halle Zwei und Drei des Fleischgroßmarktes, wo Strohmeyer und seine Konkurrenten das bessere Fleisch erstanden. Rechts davon, etwas weiter südlich, erstreckte sich eine Reihe von Schornsteinen am Horizont. Dieser Bereich war mit dem Großmarkt durch einen Tunnel unter der viel befahrenen Landsberger Allee verbunden. Es war eine riesige Stadt in der Stadt und erstreckte sich kilometerweit in jede Richtung. Berlins riesiger, zentraler Vieh- und Schlachthof mit seinen zahllosen Eisenbahnschienen, Verkaufshallen und Schlachthöfen. Schon bald würde er seine Ermittlungen dort fortsetzen müssen. Aber nicht heute. Heute würde er nach Hause gehen und den Jungs bei den Hausaufgaben helfen, ihnen vielleicht ein bisschen vorlesen und ein Bad nehmen.
Und mit seiner Frau schlafen.
Kraus holte tief Luft und
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