Kindersucher
entschädigen? Wenn das Wurstverbot noch viel länger dauerte, würden die ehrlichen Händler untergehen und nur noch diese Kakerlaken von freien Händlern übrig bleiben.
Das Hämmern in Kraus’ Kopf hatte etwa um diese Zeit angefangen und wurde seitdem mit jedem Tag schlimmer.
Und diese endlose Tour durch die Wurstfabrik tat das ihre dazu.
»Natürlich befolgen wir die striktesten Sicherheitsvorschriften, die das Gesundheitsministerium selbst herausgegeben hat.« Strohmeyer klang schrill, als sie die Füllräume erreichten. »Keiner weiß besser als wir, wie rasch sich Bakterien an einem Arbeitsplatz ausbreiten können. Wir halten unsere Einrichtung blitzblank, wie Sie sehen. Oberflächen, die in Kontakt mit Fleisch kommen, werden ständig mit Chlorbleiche desinfiziert. Unsere Angestellten waschen sich die Hände, bevor sie ihren Arbeitsplatz betreten oder nachdem sie irgendetwas getan haben, was das Fleisch kontaminieren könnte, zum Beispiel niesen.«
Kraus starrte auf die Reihen von riesigen Schüttgut-Containern mit ihren langen Trichtern und den justierbaren Stutzen. Er konnte fast sehen, wie die fetthaltige, rote Mischung hindurchgepresst wurde, die Darmhüllen füllte, wie eine Hülle nach der anderen gestopft wurde, gedreht, wie Schlingen ausgespuckt wurden und sich sorgfältig darum wanden. Ein kurzer Seitenblick auf Strohmeyer überzeugte ihn davon, dass der Wurstkönig seine eigenen Worte wirklich glaubte. Aber Kraus hatte genug Zeit gehabt, die Unterlagen zu studieren, deshalb wusste er, dass die Rhetorik des Mannes nicht vollkommen mit den Tatsachen übereinstimmte.
Eine Wurst – das hatte er diese Woche gelernt – war mehr, als sie schien. In einem einzigen Darm konnte eine Firma wie die von Strohmeyer nicht nur verschiedene Fleisch- und Fettanteile stopfen, sondern auch Fleisch von unterschiedlichen Tieren und sogar von unterschiedlichen Schlachthöfen. Sie benutzten auch das, was man Füllmaterial nannte, fettige Stücke, die von besserem Fleisch abgeschnitten worden waren, oder auch andere Teile des Tiers, die schwer zu nutzen waren, wie zum Beispiel Mägen, Kehlen, Blut. Das kombinierten sie mit höherwertigem Fleisch. Eine Mischung von Fleisch und Füllmaterial sparte einer Firma – laut dem Industrie-Handelsjournal Fleisch und Fleischnebenprodukte – etwa fünfundvierzig Prozent Kosten. Was weder das Journal noch Strohmeyer erwähnten, was jedoch in einem Bericht des Gesundheitsministeriums von 1927 stand, war, dass dieses billige Füllmaterial von Tierteilen stammte, die mit größerer Wahrscheinlichkeit als andere Kontakt mit der Hauptquelle von Bakterien hatten: tierischem Kot.
Nach einer langen Reise in drückender Enge quer durch Europa erreichten Schweine, Schafe, Ziegen und Rinder Berlin vollkommen mit Fäkalien eingeschmiert. Der gigantische, zentral gelegene Vieh- und Schlachthof, der Centralviehhof, verlangte, dass alle Schlachter die Kadaver gründlich abspritzen, bevor sie sie in die Zerlegeräume schickten. Das war jedoch, hatte Kraus herausgefunden, alles andere als narrensicher. Fäkalien kamen immer wieder durch. Und manchmal verteilten Arbeiter sie von der äußeren Haut direkt auf das Fleisch, wenn auch unabsichtlich. Das passierte vor allem bei dem sogenannten Füllmaterial, das aus der Außenseite herausgeschnitten wurde und das zum Beispiel Strohmeyer verwendete. Die Arbeiter entfernten zwar alle Fäkalien, die sie sahen, aber laut einem Bericht der Vereinigten Fleischarbeiter Gewerkschaft konnten sie leicht etwas übersehen, da alle fünf Sekunden ein halber Kadaver am Haken heranrollte. In der Kaldaunenwäsche, wo die Tiere ausgenommen wurden, grassierte ebenfalls die Verunreinigung.
Strohmeyer kaufte Füllmaterial, Abfälle, Fett, Blut sowie große und kleine Darmhäute von mindestens einem Dutzend Lieferanten auf dem Viehhof. Er verließ sich darauf, dass sie ihre Produkte auf Befall von Bakterien testeten, und führte seine eigenen Tests erst durch, nachdem der Inhalt bereits zusammengemischt war. Technisch gesehen entsprach das den Richtlinien des Gesundheitsministeriums aus der Zeit der Jahrhundertwende, die zwar vorschlug, dass Wurstproduzenten die Fleischzutaten vor dem Mahlen prüften, es aber nicht zwingend vorschrieben. »Optimalerweise sollte jeder Produktionspartie eine Stichprobe entnommen werden, die überprüft wird, bevor sie den Lieferanten verlässt, und erneut überprüft werden, bevor sie beim Empfänger genutzt wird«, empfahl die
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