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Kindersucher

Kindersucher

Titel: Kindersucher Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paul Grossman
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wenn das Spiel hieß, wir lösen ein Verbrechen, dann war eine Täuschung oft eine höchst fruchtbringende Taktik. Also zückte er nicht seine Polizeimarke, weil er spürte, dass er bei diesem Mann möglicherweise weiterkam, wenn er dessen Ego ein bisschen streichelte.
    »Sehr aufmerksam von Ihnen, Herr Pastor. Ja. Ich habe etwas wirklich schrecklich Böses erlebt. Und als ich Ihr Plakat gesehen habe, wurde ich hierher gezogen, um herauszufinden, ob Sie mir helfen können, zu verstehen. Es ist mir vollkommen unverständlich, dass menschliche Wesen, die so viel Liebe und Freundlichkeit besitzen und ein so großes Verlangen haben, Gutes zu tun, auch so, wie Sie es nennen, verdorben sein können.«
    »Wie heißen Sie, mein Lieber?«
    »Willi.«
    »Willi. Wollen Sie mich in meine Studierstube begleiten? Trinken Sie ein Glas mit mir. Ich brauche immer einen kleinen Schluck nach meinen Predigten.«
    Der Geistliche schlug Kraus auf die Schulter und führte ihn in eine kahle Kammer hinter der Kapelle. »Die Menschen sind bei weitem nicht so verdorben, wie sie sein könnten.« Er bedeutete Kraus, sich hinzusetzen. »Jeder hat etwas Gutes in sich.« Er schenkte zwei Gläser mit Pfefferminzschnaps ein. »Das kann man nicht leugnen.« Er stieß mit Kraus an und lächelte bevor er seinen Schnaps in einem Zug kippte.
    Kraus nippte vorsichtig. Schließlich hatte er im Moment ja nichts Besonderes im Büro zu tun.
    »Aber obwohl die Menschen nicht völlig verdorben sind«, der Pfarrer hustete und zog seine grauen Brauen zusammen, »hat sich die Verderbnis, die in ihnen steckt, auf jeden Teil von ihnen ausgedehnt und auf alles, was sie tun. Nehmen Sie dies als Beispiel.« Er deutete auf die Flasche.
    »Übrigens ausgesprochen köstlich.« Kraus war dankbar für die minzige Wärme, die plötzlich seine Brust durchströmte. Der Schnaps war eine Wucht. Er trank einen größeren Schluck.
    »Genau meine Meinung. Aber fügen Sie einen einzigen Tropfen Zyanid hinzu, dann sind wir beide tot.« Der Pfarrer lächelte traurig. »Denn obwohl die Flasche nicht damit gefüllt ist, breitet sich dieser einzige Tropfen Verderbnis auf alles aus. Verstehen Sie die Analogie? Die Menschen mögen nicht vollkommen böse sein, aber das ursprüngliche Böse, mit dem sie geboren wurden, erstreckt sich auf alles, was sie tun. Das meint ›völlige Verderbnis‹.«
    Dass Kraus ein zweites Glas ablehnte, hielt den Pfarrer nicht davon ab, das seine neu zu füllen. »Könnte es nicht trotzdem möglich sein«, Kraus sah zu, wie der Gottesmann das zweite Glas ebenfalls in einem Zug leerte, »dass einige Menschen überhaupt keine Güte besitzen, dass sie wirklich und wahrhaftig vollkommen verdorben sind?«
    Der Pfarrer klopfte sich ein paar Mal gegen die Brust und sah ihn dann blinzelnd an. »Ich verstehe nicht genau, worauf Sie hinauswollen.«
    Kraus spürte plötzlich die Wirkung des Schnapses und war überrascht, wie sehr er sein Gehirn vernebelte.
    »Ich meine damit zum Beispiel jene, die Gewaltverbrechen begehen.«
    »Sie meinen, wie Kain und Abel ...«
    »Ich meine, Pastor Braunschweig, heute, hier in Berlin ... wo jemand kleine Jungs ermordet.« Kraus hatte nicht vorgehabt, damit herauszuplatzen, aber Schnaps lockerte immer seine Zunge. »Er kocht ihre Knochen und benutzt ihre getrockneten Sehnen, um sie zu bizarren ...«
    Er unterbrach sich, als er begriff, dass er zu schnell und zu weit gegangen war. Der Pastor wurde kreidebleich. Die Wärme in Kraus’ Herz verwandelte sich in Beklommenheit. Ihm wurde klar, dass er eine Grenze überschritten hatte. Wenn man im Präsidium erfuhr, dass er sich in Freksas Fall einmischte, konnte es ziemlich unangenehm für ihn werden. Ach verdammt, dachte er. Der Schnaps mochte vielleicht der Auslöser sein, aber er wollte verflucht sein, wenn er jetzt aufhörte.
    Außerdem würde Freksa dieser Spur ohnehin niemals folgen.
    »Herr Pastor, würde Ihnen jemand einfallen, jemand aus Ihrer Kirchengemeinde oder ein Zuhörer bei Ihren Predigten, der ein Interesse an dem Thema der völligen Verdorbenheit zeigte und möglicherweise in der Lage wäre, ein solches ...«
    Der Pastor war mittlerweile kreideweiß vor Verwirrung. Kraus wurde klar, dass er nicht erwähnt hatte, dass sich eine Bibel in dem Jutesack befunden hatte, auf dem diese Passage aus dem Brief an die Epheser umrahmt war: Kinder des Zorns. Aber jetzt war es zu spät. Braunschweig wirkte plötzlich so, als fürchtete er, dieser mörderische Wahnsinnige könnte Kraus selbst

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