Weihnachten mit Mama
Prolog
W ie peinlich! Wie überaus peinlich! «
Mama schlug ein Tremolo an, das in Lichtgeschwindigkeit die Selbstsicherheit eines jeden unterminiert und in ein personifiziertes schlechtes Gewissen verwandelt. Sie brauchte nicht die Hände zu ringen oder zu sonst einer Geste der Verzweiflung zu greifen. Es reichte das Tremolo. Und wie sie das Wort peinlich aussprach – so aus tiefster Seelennot.
»Du willst doch nicht etwa in diesem Aufzug aus dem Haus?«, setzte sie nach.
Ich war froh, dass diese rhetorische Frage nicht an mich, sondern an meinen Bruder Robert gerichtet war. Der sogleich den Kopf einzog und einen schuldbewussten Blick aufsetzte à la: Ich war’s nicht, den er seit frühen Kindertagen draufhatte und mit dem er sich Pardon erhoffte. Aber er machte den Fehler, ihn mit etwas Aufsässigkeit zu mischen. Was Mama unweigerlich dazu brachte, noch ein wenig nachzulegen.
»Das kannst du unmöglich ernst meinen … so zur Christmette zu gehen.«
»Aber, Mama, ich zieh ja einen Mantel drüber. Was ich da drunter trage, sieht doch keiner.«
» Ich sehe es, Robert, ich sehe es. Und du siehst es. Es wird ja nicht zu viel verlangt sein, wenn du einmal im Jahr festtäglich gewandet zur Kirche gehst und nicht in diesem … in diesem Outfit .«
So war es, als Robert sechzehn war und ich achtzehn und damit längst aus der pubertären Schusslinie. So war es auch, als Robert zweiundzwanzig war und Mama ihm regelmäßig die Krawatte geradezog. So war es noch, als Robert mit achtundzwanzig – endlich, wie Mama fand – heiratete und sie ihm den Smoking aussuchte und das Hemd und die Fliege und ihm das Sträußchen am Revers befestigte. Niemals, zu keiner Zeit, war es Robert gelungen, in Mamas Augen irgendwie adäquat angezogen zu sein. Während sie bei mir nie ein Fusselchen auszusetzen fand.
So hatte ich bei Mama immer die Nase vorn. Erstgeborener halt. Der Vorsprung bleibt dir immer. Der Kleine hechelt hinter dir her, wenn du schon in Mamas Armen angekommen bist. Er hat nie eine wirkliche Chance. Er kämpft verbissen um Anerkennung und Liebe, und man kann nicht sagen, dass Mama jemals irgendwie erkennen ließ, für mich mehr Sympathie und Wohlwollen zu empfinden als für Robert. Es war nicht offensichtlich, nicht ein einziges Mal. Doch ich spürte, ich wusste es. Und Robert spürte und wusste es auch.
Nicht nur an jenem Weihnachtsabend vor einem Vierteljahrhundert. Es war noch so, als die ganze Familie zusammenkam, an jenem überaus denkwürdigen Tag, als Weihnachten und Mamas fünfundsechzigster Geburtstag auf einen Tag fielen. Diese Geschichte muss ich Ihnen erzählen. Warum? Nun, weil das Christkind an diesem Heiligabend eine ganz besondere Überraschung mitbrachte. Und die Siebenschöns zu wahrer Größe fanden und endlich eine Familie wurden. Mehr kann ich an dieser Stelle beim besten Willen nicht verraten …
Doch sollten Sie nun in freudiger Erregung einen harmlos-lustigen Familienroman erwarten, muss ich Sie leider enttäuschen. Bei den Siebenschöns ist alles auf den hohen Ton gestimmt, immer Oper oder zumindest Operette, ein Drama in mehreren Akten. Auf unserer Bühne gibt es virtuoses Spiel aller Beteiligten inklusive ein paar komischer Slapstick-Einlagen. Und irgendwann geht es bei uns auch immer um alles oder nichts. Wenn Ihnen das, was ich Ihnen in absoluter Ehrlichkeit erzähle, ziemlich unwahrscheinlich, an den Haaren herbeigezogen oder sonstwie unglaubwürdig vorkommt, sollten Sie etwas über Familie lernen, liebe Leserinnen und Leser – so es Letztere überhaupt gibt. Wenn Sie Herr oder Frau Rührmichnichtan sein wollen, kaufen Sie sich eine Fahrkarte auf die einsame Insel. Hier, in Family’s Land , lebt jeder sozusagen in der Westentasche des anderen. Einsamkeit ist wie ein dunkles Zimmer, das einem ganz allein gehört. Familie ist ein Leben, in dem einem nichts allein gehört. Gar nichts. Das ist furchtbar, ich weiß. Und es ist wunderbar. So wunderbar wie Weihnachten, wenn der Schnee fällt, wenn der Eierlikör kreist und der Punsch die Wangen erhitzt. Wenn Bescherung ist – ein Wort, das wir unbedingt wörtlich nehmen müssen.
Und wenn Sie am Ende meinen, wir Siebenschöns seien Ihnen irgendetwas schuldig geblieben, bekommen Sie Ihr Geld zurück und können sich davon einen anderen Weihnachtsroman kaufen. Aber dafür übernehme ich dann keinerlei Haftung.
1
Meine Güte, ist denn das
zu viel verlangt?
E s schneite. Vom Himmel, der so dramatisch aussah, als würden dort oben hinter
Weitere Kostenlose Bücher