Kindersucher
Beweisstücken nachweisen können. Sieben, um genau zu sein: fünf auf den Knochen und zwei auf den Säcken. Bei diesen Flecken handelte es sich um Blut. Weitere Tests mit dem Chromatographie-Verfahren, bei dem winzige Fragmente dieser Proben solange erhitzt wurden, bis sie in einen gasförmigen Zustand übergingen, in dem man ihre Zusammensetzung messen konnte, hatten ergeben, dass dieses Blut gewaltige Mengen von HbCO enthielt, Kohlenoxydhämoglobin. Das deutete zweifelsfrei auf Ersticken als Todesursache hin, ein pathologischer Zustand, bei dem dem Körper Sauerstoff entzogen wurde, wie Hoffnung es formulierte.
Kraus hatte schon mehrmals mit Hoffnung zusammengearbeitet und noch nie erlebt, dass er sich so geschwollen ausdrückte. Jetzt jedoch war ihm ganz eindeutig so unwohl bei dem, was er zu sagen versuchte, dass er Kraus nicht einmal mehr ansehen konnte.
»In einfachem Deutsch, bitte, Doktor. Tut mir leid. Ich kann Ihnen nicht folgen.«
»Wie genau man es gemacht hat oder warum«, Hoffnungs Stimme klang brüchig, während er den Blick abwandte und auf das Mundstück seiner Pfeife biss, »kann ich natürlich nicht sicher sagen.« Er unterdrückte ein Aufstoßen. »Aber bevor ihr Fleisch vom Knochen gelöst wurde und bevor ihre Knochen gesiedet wurden«, er warf einen kurzen, unglücklichen Blick auf Kraus, »wurden diese Jungs durch Kohlenmonoxid vergiftet, Herr Kriminalsekretär. Mit anderen Worten, sie wurden vergast.«
Kraus glaubte schon, dass es nicht schlimmer werden konnte, aber Hoffnung wandte wieder den Blick ab.
»Außerdem hat die Spektralanalyse zahlreiche kleine Mulden an den Knochen gezeigt, die von menschlichen Schneidezähnen stammten. Wer auch immer das getan hat, hat zweifellos das Fleisch vom Knochen gelöst, aber er hat ebenfalls die Knochen abgenagt. Es besteht keinerlei Zweifel, Kraus. Wir haben es hier mit einem Kannibalen zu tun. Der Begriff Kinderfresser ist eine durchaus zutreffende Bezeichnung.«
Bei der Erinnerung an Hoffnungs Worte bekam Kraus beinahe einen Schwächeanfall. Verzweifelt drehte er sich vom Becken um und sah zurück zur Umkleidehalle. Er kniff die Augen zusammen und blinzelte, um durch den Tränenschleier etwas zu erkennen. Erich und Stefan waren plötzlich wieder aufgetaucht und standen an der Stelle, an der er ihnen befohlen hatte zu warten. Sein Herz hämmerte heftig, als er Heinz hinter sich herzog. Sie wären nur kurz um die Ecke zum Trinkwasserbrunnen gegangen, verkündeten sie fröhlich, als Kraus sie erreichte. Sie hatten keine Ahnung, dass er sie überhaupt vermisst hatte. Er hätte sie beide erwürgen mögen.
ACHTZEHN
Trommelwirbel erschütterten den Sportpalast. Trompeten, Flöten und Glockenspiele stimmten einen stampfenden Marsch an. Fahnen mit roten und schwarzen Hakenkreuzen wehten über den Gängen. »Heil! Heil! Heil!« Tausende begrüßten die hereinmarschierenden Jugendbrigaden. Adrette Mützen, Stiefel, Brustriemen, Epauletten ... Neben ihnen wirkten ihre kommunistischen Widersacher wie Landstreicher. Das ist alles andere als eine normale Wahlkampfveranstaltung, dachte Kraus.
Und ganz bestimmt war das nichts, worüber man sich hätte herablassend amüsieren können.
»Was für ein Zirkus«, hatte Fritz gestern beim Mittagessen erklärt, als fünf oder sechs Lastwagen mit offenen Pritschen am Café Kranzler vorbeigerauscht waren. Auf den Ladeflächen hatten Nazis gestanden und Flugblätter unter die Menschen geworfen. MORGEN: DER FÜHRER SPRICHT! Der Ku’damm war knöcheltief mit Pamphleten bedeckt. Irgendjemand finanzierte diesen »Zirkus« und zwar im großen Stil.
»Du erinnerst dich an meinen alten Schulkameraden von Hessler?« Fritz warf einen Blick auf ein Flugblatt und verzog das Gesicht. »Er führt eine Art wissenschaftliches Experiment bei dieser Versammlung durch. Angeblich will er Gehirnströme messen. Er braucht dafür fast eine Tonne Ausrüstung, also habe ich ihn in der Pressekabine untergebracht, der beste Platz im Haus. Er war so dankbar, dass er mich eingeladen hat, ihm Gesellschaft zu leisten. Er hat eine einmalige Show versprochen. Warum kommst du nicht einfach mit, Willi?«
Das klang nach einem unterhaltsamen Abend. Kraus wusste nur sehr wenig über die Nazis, außer, dass sie die Juden für Deutschlands größtes Unglück hielten. Höchst unterhaltsam. Doch dass die Hirtin Waisenkinder hatte entführen können, während sie ganz offen eine Hakenkreuz-Anstecknadel trug, veranlasste ihn, Fritz’ Einladung anzunehmen.
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