Flachskopf
Vorwort zur deutschen Ausgabe
F lachskopf und Ernest Claes stammen aus dem heiligen Lande von Brabant, aus der Gegend zwischen Scherpenheuvel und Averbode. Zu jedem dieser beiden Dörfer gehört ein Berg, und auf jedem der Berge steht eine schöne Barockkirche. Die von Scherpenheuvel hat einen Kranz von Häusern um sich, die von Averbode ist nur von schwarzen Tannenwäldern umgeben. In diesen beiden Kirchen wohnen die berühmtesten Madonnen Flanderns. Die Madonna von Scherpenheuvel ist ein altes, kleines, schwarzes Bild, das von einem Hirten in einem Baum gefunden wurde und wofür das spanische Herzogspaar Albrecht und Isabella einen großen Kuppelbau errichten und außen mit goldenen Sternen verzieren ließ, was besonders von weitem sehr schön aussieht. Das lebensgroße Madonnenbild von Averbode ist noch ziemlich neu, aber bereits sehr berühmt. Es steht in der Abtei der Benediktiner, und die Turmspitze dieser Abtei ragt wie ein Minarett über den Wald des Berges heraus. Jahraus, jahrein wirken diese beiden Madonnen Wunder, und im Sommer sind die Wege, die aus allen Richtungen hinführen, schwarz getüpfelt von Wallfahrern und Prozessionen. Wer einmal lebendige Bruegel-Gemälde zu sehen wünscht, der muß an einem Sonntag dort spazieren gehen, und er wird staunen, wie trotz Autobussen, Radio und Blechmusik Bruegel noch in seinem Volke und das Volk in Bruegels Gemälden weiterlebt.
Fast jeder Wallfahrer, der vor einem dieser Madonnenbilder eine Kerze angezündet hat, besucht, wenn er Zeit und Lust hat, auch die andere Madonna. Dann muß er über schmale Wege, neben reifenden Kornfeldern, hinuntersteigen ins Tal und das freundliche Dorf Sichem durchqueren, wo Flachskopf und Ernest Claes geboren wurden. Wer hätte jemals gedacht, daß hier ein Flachskopf und ein Ernest Claes zur Welt kommen könnten, in diesem Dorf zwischen zwei Hügeln, zwischen zwei Madonnen, in der Stille blauer Hügelketten, in der Heimlichkeit endloser Wälder, in diesem Land der Mönche, wo noch die zerfallenen Türme alter Ritterschlösser stehen? Wer hätte das gedacht? Und wer dachte überhaupt an Sichem? In der Schule hatten wir zwar gelernt, daß die Demer durch Sichem fließt, aber so etwas vergißt man doch am schnellsten. Auch weiß ein jeder, daß man in Sichem umsteigen und gewöhnlich lange warten muß, um mit Zug oder Kleinbahn nach einem der beiden Wallfahrtsorte zu gelangen. Sichem hat eine alte Kirche in braunem Naturstein, eine Wassermühle und einen kleinen Marktplatz mit Bäumen. Das ist, glaube ich, so ziemlich alles. Aber das genügt auch. Man kannte Sichem, weil man unbedingt hindurch mußte, um von einer Madonna zur anderen zu gehen, oder weil man da öfters auf den Zug gewartet hatte. Man aß vor einer Kneipe sein Butterbrot und trank ein Flaschenbier, das in die Nase stieg. Und es war nichts Besonderes zu sehen, weder an den Menschen noch an den Spatzen; es waren Menschen und Spatzen wie überall... Man hörte vielleicht manchmal in der Stille jemand, der auf einem Messinginstrument ein schweres Solo übte, und man dachte, daß es hier eine Musikkapelle gäbe, wie in jedem anderen Dorfe auch. Man hörte in der benachbarten Schule die Kinder ihre Aufgabe hersagen, und man dachte: das ist eine Schule wie jede andere, und man bedauerte unwillkürlich den Lehrer, wie man alle Lehrer bedauert. Dann sah man den Pfarrer, einen alten Pfarrer, Brevier betend auf die Kirche zuhumpeln und dachte: das ist ein Pfarrer wie alle anderen Pfarrer. Ja, man hörte das Brausen der Wassermühle, sah den Müller im Fenster liegen, wie alle Müller stets und überall im Fenster liegen. Dann hat man sein Glas ausgetrunken und seinen Weg fortgesetzt zur anderen Madonna, und nachher hat man nie wieder an Sichem gedacht... Niemand dachte an Sichem.
Bis plötzlich Flachskopf und Ernest Claes daraus zum Vorschein kamen und mit ihrem gesunden Frohsinn alle Herzen gewannen. Seitdem weiß jeder im Lande, daß Sichem zwischen zwei Madonnen liegt, wo es Gebete und Legenden, Lehmhütten und Abteien, Wilderer und Gespenster, ja, echte Gespenster gibt; daß diese Gegend überreich ist an Erzählungen, biblisch schöne Landschaften bietet und noch nie einen Künstler hervorgebracht hat. Und jetzt sagt jeder Wallfahrer, der nach Scherpenheuvel oder nach Averbode geht, zu seinem Weggenossen, oder er spricht es für sich: »Dort wohnt Flachskopf, hier wurde Ernest Claes geboren .« Er lächelt, während er den Rosenkranz betet, und hofft, Flachskopf in
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