Kindertotenlied: Thriller (German Edition)
aufgegeben.
Sie erinnerte sich an ihr wunderbares, einfaches Leben in Freiheit. An das letzte Mal, als sie gelacht, Freunde eingeladen, ihre Eltern gesehen hatte, an den Geruch sommerlicher Grillpartys, die Gartenbäume im Abendlicht und die Augen ihres Sohnes bei Sonnenuntergang. Gesichter, Lachen, Spiele … Sie sah sich mit Männern im Bett, besonders mit einem … Dieses Leben, das ihr so banal vorgekommen war und das doch in jedem Augenblick ein Wunder gewesen war. Warum hatte sie es nicht mehr genossen? Aber ihre Reue kam zu spät. Selbst die Momente von Kummer und Leid waren nichts im Vergleich zu dieser Hölle. Zu diesem lebendigen Begrabensein, jenseits der Welt. Sie ahnte, dass nur ein paar Meter Stein, Beton und Erde sie vom wirklichen Leben trennten, aber gleichzeitig hätten sie Hunderte von Türen, kilometerlange Gänge und Eisengitter nicht radikaler davon trennen können.
Dabei hatte es einen Tag gegeben, an dem das Leben und die Welt ganz nah, zum Greifen nah gewesen waren. Aus einem unbekannten Grund hatte er sie Hals über Kopf an einen anderen Ort bringen müssen. In aller Eile hatte er sie angezogen, ihr mit Plastikschellen die Hände hinter dem Rücken gefesselt und ihr einen Jutebeutel über den Kopf gestülpt. Anschließend hatte er sie eine Treppe hinaufgeführt, und dann, plötzlich, hatte sie im Freien gestanden. Im Freien … Der Schock hätte sie beinahe um den Verstand gebracht.
Als sie die warme Sonne auf ihren nackten Armen und Schultern spürte, durch den Stoff hindurch das Licht schimmern sah, den Geruch von Erde und noch feuchten Feldern, von blühenden Hecken einatmete und das Gezwitscher von Vögeln im Tagesanbruch, wäre sie beinahe ohnmächtig geworden. So heftig hatte sie geweint, dass sie Rotz und Wasser geheult und damit die Stofftasche völlig durchtränkt hatte.
Dann hatte er sie auf einen Metallboden gelegt, und sie hatte durch die Jute Abgase und Benzin gerochen. Obwohl sie keinen Ton hätte herausbringen können, hatte er sie vorsichtshalber mit Watte geknebelt und ihren Mund mit Heftpflaster zugeklebt. Auch Handgelenke und Knöchel hatte er ihr zusammengebunden, damit sie nicht mit den Füßen gegen das Fahrzeuggehäuse treten konnte. Sie hatte den vibrierenden Motor gespürt, und der Lieferwagen war über holprigen Untergrund gerumpelt, ehe er in eine Straße einbog. Als er plötzlich Gas gab und sie hörte, wie sie von zahlreichen Fahrzeugen überholt wurden, wusste sie, dass sie auf einer Autobahn waren.
Das Schlimmste war die Mautstelle gewesen. Ringsherum hatte sie Stimmen, Musik und Motorgeräusche gehört, ganz nah … gleich hinter der Fahrzeugwand. Dutzende von Menschen. Frauen, Männer, Kinder … Nur wenige Zentimeter neben ihr! Sie hörte sie! … Eine Lawine von Gefühlen überschwemmte sie. Die Leute lachten, plauderten, kamen und gingen, lebendig und frei. Sie ahnten nichts von ihrer Gegenwart, ganz in ihrer Nähe, von ihrem langsamen Sterben, ihrem Sklavendasein … Wieder begann sie zu weinen. Vor Wut und Verzweiflung. So heftig hatte sie den Kopf geschüttelt, dass er gegen die Wand schlug, und aus ihrer Nase war das Blut auf den verdreckten Boden getropft.
Und dann hatte sie ihren Peiniger „danke“ sagen hören, und der Lieferwagen war wieder losgefahren. Sie hätte schreien wollen.
Am Tag ihres Umzugs war das Wetter schön, sie war sich so gut wie sicher, dass die Pflanzen blühten. Frühling … Wie viele Jahreszeiten würde sie noch erleben, ehe er ihrer überdrüssig war, ehe sie wahnsinnig wurde, ehe er sie endlich umbrachte … Sie war sich plötzlich sicher, dass ihre Freunde, ihre Verwandten und die Polizei sie bereits für tot hielten. Ein einziges Wesen auf der Welt wusste, dass sie noch lebte – und das war ein dämonisches Wesen, eine Schlange, ein Incubus . Das Tageslicht würde sie nie mehr wiedersehen.
Freitag
1
Puppen
Es war da, im schattigen Garten,
Der Schatten des kaltblütig lauernden Mörders,
Schatten auf Schatten auf dem Gras, weniger grün als
Rot vom abendlichen Blut.
In den Bäumen forderte die Syrinx einer Nachtigall
Marsyas und Apollon heraus.
Im Hintergrund malte eine Laube aus Nestern
Und Mistelkugeln
Eine ländliche Szenerie …
Oliver Winshaw hörte auf zu schreiben und zwinkerte. Irgendetwas am Rand seines Gesichtsfeldes hatte seine Aufmerksamkeit erregt – genauer gesagt: abgelenkt. Am Fenster. Ein Blitz draußen. Wie das Blitzlicht eines Fotoapparats.
Das Gewitter brach über
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