Kindertotenlied: Thriller (German Edition)
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Raymond
„Anelka ist eine Null“, sagte Pujol.
Vincent Espérandieu sah seinen Kollegen an und fragte sich, ob dessen Urteil auf die schwache Leistung des Stürmers oder auf seine Herkunft und die Tatsache zurückzuführen war, dass er aus einer Hochhaussiedlung in der Pariser Banlieue stammte. Pujol mochte keine Hochhaussiedlungen, noch weniger ihre Bewohner.
Trotzdem musste Espérandieu dieses eine Mal zugeben, dass Pujol Recht hatte: Anelka war eine Niete. Null. Fertig. Wie übrigens auch der ganze Rest der Mannschaft. Eine einzige Qual, dieses erste Spiel. Nur Martin schien es egal zu sein. Espérandieu sah ihn an und lächelte: Bestimmt kannte sein Chef nicht einmal den Namen des Trainers, den ganz Frankreich seit Monaten ausbuhte und aufs Übelste beschimpfte.
„Domenech ist eine verdammte Flasche“, sagte Pujol in diesem Moment, als hätte er Vincents Gedanken gelesen. „2006 sind wir nur deshalb ins Finale eingezogen, weil Zidane und die anderen in der Mannschaft die Führung übernommen hatten.“
Da niemand diese Tatsache bestritt, schlängelte sich der Polizist durch die Menge, um noch ein paar Bier zu holen. Die Bar war rammelvoll. 11. Juni 2010. Tag der Eröffnungsfeier und der ersten Spiele der Fußballweltmeisterschaft in Südafrika. Darunter auch dasjenige, das gerade über den Bildschirm flimmerte: Uruguay – Frankreich, 0:0 zur Halbzeit. Wieder beobachtete Vincent seinen Chef. Er starrte noch immer auf den Bildschirm. Mit leerem Blick. In Wirklichkeit sah sich Commandant Martin Servaz das Spiel gar nicht an, er tat nur so – und sein Stellvertreter wusste das.
Aber Servaz sah sich nicht nur das Spiel nicht an, er fragte sich auch, was er eigentlich hier verloren hatte.
Er hatte seinem Ermittlungsteam eine Freude machen wollen, indem er mitging. Schon seit Wochen drehten sich sämtliche Gespräche auf den Fluren der Kriminalpolizeiinspektion um die WM. Um die Form der Spieler, desaströse Freundschaftsspiele, unter anderem eine demütigende Niederlage gegen China, die vom Trainer aufgestellten Spieler, das viel zu teure Hotel. Servaz fragte sich schließlich, ob ein Dritter Weltkrieg sie stärker beschäftigt hätte. Vermutlich nicht. Er hoffte, dass die Gauner es genauso hielten und die Zahl der Verbrechen von selbst zurückging, ohne dass irgendjemand intervenieren musste.
Er griff nach dem frischen Glas Bier, das Pujol vor ihn hingestellt hatte, und führte es an die Lippen. Die zweite Halbzeit hatte begonnen. Die Männchen in Blau bewegten sich genauso plan- und ziellos wie zuvor; sie liefen von einem Ende des Spielfelds zum anderen, ohne dass Servaz in diesen Spielzügen die geringste Logik erkennen konnte. Für die Stürmer war er kein Experte, aber sie machten auf ihn einen besonders ungeschickten Eindruck. Irgendwo hatte er gelesen, der Französische Fußballbund müsse für die Anreise und die Unterbringung der Mannschaft über eine Million Dollar berappen, und er hätte gern gewusst, woher dieses Geld kam und ob auch er seinen Obolus würde beitragen müssen. Aber diese Frage schien seine Nachbarn, denen sonst so viel daran lag, dass der Staat mit ihren Steuergeldern verantwortlich umging, weniger zu beschäfitgen als die chronische Erfolglosigkeit der Mannschaft. Servaz versuchte sich doch auf das Spiel zu konzentrieren. Aus dem Fernseher ertönte ununterbrochen ein unangenehmes Brummen, wie von einem riesigen Mückenschwarm. Er hatte sich sagen lassen, das seien die Tausenden von Vuvuzelas der im Stadion versammelten südafrikanischen Fans. Wie konnten sie nur einen solchen Krach machen und vor allem aushalten? Selbst hier war dieses Gedröhne noch vollkommen unerträglich, obwohl es von Mikrophonen und Filtern gedämpft wurde.
Plötzlich flackerten in der Bar die Lichter, und unter lauten Unmutsschreien der Zuschauer verzerrte sich das Bild auf dem Bildschirm und verschwand, um sogleich wieder zu erscheinen. Das Gewitter … Es kreiste über Toulouse wie ein Schwarm Raben. Ein verstohlenes Lächeln zeigte sich auf Servaz´ Gesicht, als er sich vorstellte, dass alle Zuschauer vor ihren Bildschirmen jetzt im Dunkeln säßen und das Spiel nicht weiterverfolgen könnten.
Ohne es zu wollen, wanderten seine zerstreuten Gedanken in eine vertraute, aber gefährliche Zone. Seit mittlerweile 18 Monaten hatte Julian Hirtmann kein Lebenszeichen mehr von sich gegeben … Anderthalb Jahre, aber kein Tag war vergangen, an dem der Polizist nicht an ihn gedacht hätte.
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