Kindspech: Tannenbergs achter Fall
seiner Wohnung. Im Bad schüttete er sich ein paar Hände Leitungswasser in sein schweißnasses, gerötetes Gesicht. Dann suchte er sein Handy. Anschließend trippelte er die Stufen wieder hinunter und durchquerte den Innenhof, welcher die beiden Häuser des tannenbergschen Anwesens miteinander verband. Normalerweise hätte spätestens jetzt Kurt laut zu bellen begonnen, aber diesmal blieb es gespenstisch still. Im Treppenhaus entdeckte er Emmas Buggy. Er hatte Glück: Auf der bunten Rückenpolsterung fand er zwei blonde, gelockte Kinderhaare. Er steckte sie in einen kleinen Asservatenbeutel und ließ ihn in der Hosentasche verschwinden.
Die Familie saß noch immer in Heiners Küche beisammen. Die Stimmung war verständlicherweise sehr gedrückt und konnte mit einem Wort trefflich beschrieben werden: Depression. Obwohl es nun fast 12 Uhr war, dachte nicht einer von ihnen an das Mittagessen, noch nicht einmal der verfressene Kurt, der lethargisch in der Ecke lag und ab und an einen leidenden Stoßseufzer von sich gab.
Die Zeit schien stillzustehen. Bleiernes Schweigen wanderte zwischen den Familienmitgliedern hin und her. Margot hielt einen Rosenkranz in Händen und bewegte immerfort stumm die Lippen. Heiner und Jacob hatten die Köpfe gesenkt und bohrten ihre leeren Blicke in die Tischplatte hinein. Marieke und Max saßen eng umschlungen auf der Eckbank.
Tannenberg wurde sofort mit drängenden Fragen bombardiert. Geduldig gab er Auskunft, konnte allerdings kaum mehr als ein paar vage erste Vermutungen äußern. In seiner Verzweiflung versuchte er, ein wenig Hoffnung zu spenden, indem er seiner Familie einige neue Argumente für seine Verwechslungstheorie präsentierte.
Nachdem er jeden an sein Herz gedrückt hatte, versichert er mit Tränen in den Augen, alles nur Erdenkliche für Emmas Freilassung zu tun. Anschließend verabschiedete er sich ins Kommissariat.
Dort eingetroffen, beauftragte er einen Streifenpolizisten, das Plastiktütchen mit Emmas Haaren umgehend in die Pathologie des Westpfalz-Klinikums zu bringen, wo sich in den Katakomben Dr. Schönthalers Labor befand.
Auf seinem Schreibtisch türmten sich die Aktenstapel. Geiger hatte sich offenbar mächtig ins Zeug gelegt und das Archiv erfolgreich nach alten Entführungsfällen durchstöbert. Tannenberg braute sich einen doppelten Espresso, füllte sich ein großes Glas mit Wasser und begann mit der Sichtung der Ermittlungsakten.
Mit einem Schnelldurchgang verschaffte er sich einen flüchtigen Überblick: Bei dem überwiegenden Teil der sogenannten Entführungsfälle handelte es sich, dem ersten Anschein nach zu urteilen, um Kindesentziehungen. Vorwiegend Väter hatten dem anderen, meist allein sorgeberechtigten Elternteil die leiblichen Kinder entzogen, sich mit ihnen ins Ausland abgesetzt und waren dort untergetaucht.
Im gesamten Zuständigkeitsbereich des K 1 ereigneten sich im Zeitraum der letzten 20 Jahre lediglich zwei Fälle von Kindesentführung, die einen Erpressungshintergrund aufwiesen. Beide Male waren die Kleinkinder nach der Zahlung eines beträchtlichen Lösegeldes körperlich unversehrt freigelassen worden. Der oder die Täter konnten bislang nicht ermittelt werden.
Die Begleitumstände dieser ungeklärten Fälle wiesen einige Parallelen auf und ähnelten zudem denen der aktuellen Entführung. Schon damals war die Hypothese aufgekommen, dass es sich bei dem oder den Tätern um ein und dieselbe Person bzw. Personengruppe handelte. Wie in Emmas Fall waren diese beiden Kleinkinder ebenfalls im Freien entführt worden. Eines mitten in einer Stadt, das andere am Rand eines Freizeitgeländes. Beide Male wurden gestohlene Fahrzeuge verwendet, die später verlassen aufgefunden wurden.
Vielleicht war das heute Morgen wirklich wieder derselbe Mistkerl, der auch die anderen Kinder entführt hat, sagte Tannenberg zu sich selbst. Die letzte Entführung liegt sechs Jahre zurück und die davor weitere acht Jahre. Vielleicht schlägt er ja immer dann zu, wenn er kein Geld mehr hat. Zum Glück hat er wenigstens seinen Entführungsopfern nie etwas zuleide getan. Dann wird er bestimmt auch Emma nichts antun, hoffte er im Stillen. Das ist garantiert ein Profi. Und ein Profi reagiert nicht panisch, wenn er feststellt, dass er das falsche Mädchen entführt hat. Der bleibt ganz cool, wartet eine Zeit lang ab und schlägt dann in ein paar Jahren wieder zu.
Er trank einen großen Schluck Wasser, wischte sich mit einem Taschentuch den Schweiß von der Stirn
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