Kindspech: Tannenbergs achter Fall
Tannenbergs geschundene Seele mit einem überfallartigen, unerklärlichen Energieschub. Ein Ruck ging durch seinen Körper. Er benetzte sein Gesicht mit Wasser und fuhr sich mit den nassen Händen über den Nacken. Dann richtete er sich prustend auf, trocknete sich ab und hechtete zum Telefon. Er rief Geiger an, den er vorhin noch einmal ins Archiv geschickt hatte, und wies ihn an, alle Fallakten über Kindesentführungen mit pädophilem Hintergrund herauszusuchen und sie umgehend in sein Büro zu bringen.
Schweren Herzens rief er anschließend die BKA-Datenbank auf und gab das Schlagwort ›Kindesmissbrauch‹ ein. Was er dort lesen musste, war selbst für einen hartgesottenen Kriminalbeamten wie ihn zu viel. Ohne darüber nachzudenken, griff er in seinen Schreibtisch und zog aus einer Schublade eine angebrochene Flasche Mirabellengeist heraus. Mit fahriger Hand befüllte er sein Wasserglas und schüttete den Inhalt in einem wahren Sturztrunk in sich hinein. Er gab keine Ruhe, bis die Flasche leer war.
In seiner Verzweiflung telefonierte er mit Dr. Schönthaler, der ebenfalls entsetzt auf dieses mögliche Tatmotiv reagierte. Auch er gab zu, diese fürchterliche Option bislang vollkommen verdrängt zu haben.
»Unsere Hoffnung, dass es sich bei der Entführung um eine Verwechslung handelt und Emma deshalb schon bald freikommt, wäre dann …« Den Rest ließ er unausgesprochen und legte auf.
20 Uhr 45
Es war Zeit für das tägliche Creme-Pflegebad. Er vergötterte geradezu die Sauberkeit. Schmutz, Ungepflegtheit und aufdringliche Gerüche verursachten ihm Übelkeit. Deshalb vermied er es auch, sich in öffentlichen Verkehrsmitteln, Aufzügen oder Kaufhäusern länger als unbedingt erforderlich aufzuhalten. Sogar auf den Besuch der geliebten Konzertsäle verzichtete er inzwischen. Ein muffelnder Nachbar, und der gesamte musikalische Hochgenuss war verdorben. Wenn es irgendwie einzurichten war, benutzte er nur zu Hause die Toilette – und dies unter Verwendung von Einweghandschuhen, Mundschutz und anschließendem Einsatz von Desinfektionsmitteln.
Er legte eine CD in den Rekorder und drückte die Abspieltaste. Leise klassische Musik erklang. Es handelte sich um Beethovens 4. Klavierkonzert, ein ausgesprochen lyrisches, romantisches Klavierstück.
Der Tag war sehr anstrengend für ihn gewesen, auch körperlich. Er hatte viel und oft geschwitzt. Er hasste Schweiß, ekelte sich regelrecht vor dieser klebrigen, übel riechenden Körperflüssigkeit. Doch nun hatte er es geschafft. Das lang ersehnte Reinigungsbad war bereits eingelassen. Strahlend weiße Schaumberge türmten sich auf und lockten mit ihrem verführerischen Duft. In Zeitlupentempo schlüpfte er aus den Kleidern, legte die Wäschestücke akkurat zusammen und stieg mit einem Storchenschritt in die Wanne. Er kniete sich vorsichtig nieder und wartete geduldig, bis sich seine empfindliche Haut an die Wassertemperatur gewöhnt hatte. Dann glitt der Rest seines Körpers bis zur Kinnspitze hinein in das milchig trübe Wasser. Sofort breitete sich ein Gefühl der wohligen Wärme und Geborgenheit in ihm aus, und er entspannte sich wie bei einer tiefen Meditation.
Ein heißes Bad bei diesen hochsommerlichen Temperaturen? Die meisten seiner Mitmenschen hätten ihn wahrscheinlich für verrückt erklärt. Für ihn aber handelte es sich dabei um ein unverzichtbares tägliches Reinigungsritual für Körper und Geist. Die jeweils herrschenden Witterungsverhältnisse waren ihm völlig gleich. Sie interessierten ihn nicht, genauso wenig wie die Meinungen anderer. Er lebte sein eigenes Leben.
Er trocknete sich die Hände ab und nahm ein Ledermäppchen vom Badezimmerregal. Es enthielt ein goldenes Maniküreset. Er zog den Reißverschluss auf, reinigte sorgfältig die Fingernägel und bearbeitete sie anschließend mit der Nagelfeile.
Kurz nachdem die letzten Takte der CD verklungen waren, sog er zum letzten Mal den milden, cremigen Badeschaumduft ein und kletterte anschließend aus der Wanne. Mit einem samtweichen Handtuch tupfte er jeden Quadratzentimeter seines ebenmäßigen Körpers ab, bis dieser vollständig trocken war. Zufrieden begutachtete er seine noch immer durchaus als athletisch zu bezeichnende Sportlerfigur. Dabei strich er sanft über seinen rechten Oberschenkel – und zuckte zusammen. Seine sensiblen Fingerkuppen hatten ein paar pieksende Haarstoppel entdeckt.
Er hegte eine ausgeprägte Aversion gegen Körperbewuchs. Davon ausgenommen waren
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