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Kinsey Millhone 03 - Abgrundtief

Kinsey Millhone 03 - Abgrundtief

Titel: Kinsey Millhone 03 - Abgrundtief Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sue Grafton
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heimlichen Klagen. Es war klar, daß meine Verletzungen heilbar waren, seine dagegen nicht. Ich hatte kein Mitleid mit ihm, aber ich war neugierig.
    An jenem Montagmorgen waren wir zum erstenmal allein in der Halle. Mit dem Gesicht nach unten machte er auf der Bank neben mir Beincurls. Er war in Gedanken versunken. Ich war zur Abwechslung zur Beindruckmaschine übergegangen. Ich wiege 107 Pfund und habe auch nur so viel Körper zu trainieren. Seit der Verletzung hatte ich das Joggen noch nicht wieder aufgenommen, deshalb dachte ich, ein paar Beindruckübungen könnten mir guttun. Ich machte sie nur mit 55 K ilogramm, aber weh tat es trotzdem. Um mich abzulenken, machte ich mir einen Spaß daraus zu überlegen, welchen Apparat ich am meisten haßte. Der Beincurler, an dem er arbeitete, war ein guter Kandidat. Ich sah zu, wie er eine Zwölferserie absolvierte und dann wieder von vorn begann.
    »Ich hörte, daß Sie Privatdetektiv sind«, sagte er, ohne sich zu unterbrechen. »Stimmt das?« Seine Aussprache war ein bißchen schleppend, aber er überspielte das ganz gut.
    »Ja. Suchen Sie einen?«
    »So ist es. Jemand hat versucht, mich umzubringen.«
    »Scheinbar hat nicht viel gefehlt. Wann war das?«
    »Vor neun Monaten.«
    »Warum Sie?«
    »Ich weiß nicht.«
    Die Rückseiten seiner Oberschenkel schwollen an, seine Kniesehnen strafften sich wie Spanndraht. Schweiß lief ihm das Gesicht hinunter. Ohne darüber nachzudenken, zählte ich mit. Sechs, sieben, acht.
    »Ich hasse diese Maschine«, bemerkte ich.
    Er lächelte. »Tut tierisch weh, nich?«
    »Wie ist es passiert?«
    »Ich fuhr spät nachts mit einem Kumpel den Paß hinauf. Ein Wagen folgte uns und begann uns von hinten zu rammen. Als wir an die Brücke gleich hinter dem Berggipfel kamen, verlor ich die Kontrolle über den Wagen, und wir gingen ab. Rick wurde getötet. Er sprang heraus, und der Wagen überrollte ihn. Ich sollte auch umgebracht werden. Das waren die längsten zehn Sekunden meines Lebens, verstehen Sie?«
    »Klar.« Die Brücke, die er runtergeflogen war, überspannte einen felsigen Canyon, voller Gebüsch und hundertzwanzig Meter tief. Eine beliebte Absprungstelle für Selbstmordkandidaten. Tatsächlich hatte ich noch nie gehört, daß jemand diesen Fall überlebt hätte. »Sie machen sich großartig«, meinte ich. »Sie haben sich ganz schön abgerackert.«
    »Was bleibt mir übrig? Direkt nach dem Unfall hieß es zuerst, ich würde nie mehr laufen können. Sie sagten, ich könnte überhaupt nie mehr etwas tun.«
    »Wer sagte das?«
    »Der Hausarzt. So’n alter Kauz. Meine Mutter feuerte ihn auf der Stelle und holte einen Orthopädie-Spezialisten. Er kriegte mich wieder hin. Acht Monate lang war ich in einer Rehabilitationsklinik, und jetzt mache ich das hier. Was ist Ihnen zugestoßen?«
    »So’n Arschloch hat mir in den Arm geschossen.«
    Bobby lachte. Es war ein wunderbares, schniefendes Geräusch. Er beendete seine letzte Übung und stützte sich auf die Ellenbogen.
    »Ich muß noch vier Maschinen machen, dann können wir hier abhauen. Übrigens, ich heiße Bobby Callahan.«
    »Kinsey Millhone.«
    Er streckte mir seine Hand hin, und ich schüttelte sie. Eine unausgesprochene Abmachung war besiegelt. Damals wußte ich bereits, daß ich, egal unter welchen Umständen, für ihn arbeiten würde.
    Wir nahmen den Lunch in einem Biorestaurant ein, so einem Laden, der spezialisiert ist auf die geschickte Imitation von Fleischpasteten, die dann doch keinen täuschen können. Ich kann auch den Sinn nicht einsehen. Nach meiner Einschätzung müßte ein Vegetarier ebenso angeekelt sein von etwas, das nur so aussiebt wie gehackte Rinderteile. Bobby bestellte ein Burrito mit Bohnen und Käse von der Größe eines zusammengerollten Saunahandtuchs, das mit Guacamole und saurer Sahne bedeckt war. Ich wählte überbackenes Gemüse und braunen Reis mit einem Glas Weißwein unbestimmter Herkunft.
    Für Bobby war das Essen ein ähnlich mühsamer Vorgang wie das Training, aber seine intensive Konzentration auf diese Aufgabe erlaubte mir, ihn aus der Nähe zu studieren. Seine Haare waren sonnengebleicht und struppig, die Augén braun mit Wimpern, wie sie die meisten Frauen kaufen müssen. Die linke Gesichtshälfte war leblos, aber er hatte ein kräftiges Kinn, betont von einer Narbe, die aussah wie ein aufgehender Mond. Nach meiner Vermutung waren seine Zähne irgendwann während des mörderischen Abgangs in die Schlucht durch die Unterlippe gestoßen worden.

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