Klassenziel (German Edition)
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3
I ch habe in meiner Schreibtischschublade ein Gummiband gefunden und mir die Haare im Nacken zu einem festen Pferdeschwanz zusammengebunden. Mein Vater mustert mich überrascht, sagt aber nichts zu meiner Verwandlung. Er drückt mir zwei Äpfel in die Hand. «Soll ich dich wirklich nicht bringen?»
«Nee, lass mal. Ich schaff das schon.»
Er umarmt mich schweigend. Meine Knie sind ein bisschen wacklig, als ich die Treppe runtergehe und das Haus verlasse.
A n Nicks ersten Schultag auf dem Gymnasium kann ich mich noch gut erinnern – sogar besser als an meinen eigenen. Ich war neidisch, dass er jetzt zu den Großen gehörte, während ich noch zwei Jahre zur Grundschule gehen musste.
Wir hatten uns das Gymnasium mit unseren Eltern vorher gemeinsam angeguckt, und ich war schwer beeindruckt. Manche Schüler hatten schon Bartwuchs, einige waren sogar größer als mein Vater. Statt Schulranzen hatten sie Ledertaschen unterm Arm wie Geschäftsleute. Sie standen in kleinen Grüppchen auf dem Schulhof zusammen und unterhielten sich, statt schreiend rumzurennen und sich zu prügeln. Und sie hatten ganz tiefe, respekteinflößende Stimmen.
Ich dachte, dass Nick an dieser Schule irgendwie beschützt sein würde. An der Grundschule ging es ja darum, wer am lautesten und am wildesten war. Den Kampf hatte Nick verloren, so viel stand fest. Er hatte keine Freunde gefunden, und seine Lehrerin beschwerte sich immer darüber, dass er sich zu wenig am Unterricht beteiligte. Aber hier, unter lauter ernsthaften, erwachsenen Gymnasiasten – da würde er bestimmt endlich zeigen können, was er draufhatte.
Für mich war die Grundschule eher easy going. Ich konnte laut und wild sein, wenn es sein musste. Ich war sportlich und gewann die meisten Schulhofkämpfe. Meine Noten waren ganz gut; wenn ich mich angestrengt hätte, wären sie noch besser geworden. Und ich hatte kein Problem damit, mich am Unterricht zu beteiligen, weil ich nicht groß überlegte, ob mein Beitrag irgendeinen tieferen Sinn hatte. Manchmal kriegte ich einen übergebraten, wenn ich einfach losquatschte, statt mich zu melden, aber im Großen und Ganzen sammelte ich bei den Lehrern eher Pluspunkte.
Freunde hatte ich auch, und zwar von Anfang an. Ein paar Jungs kannte ich schon aus dem Kindergarten. Dann lernte ich im Fußballverein welche kennen und manche auch an der Musikschule. Ich fand Freunde immer total selbstverständlich und kapierte einfach nicht, warum Nick keine hatte. Also schlug ich ihm welche vor: «Was hältst du eigentlich von diesem Mike? Der mit der kleinen Schwester, die in der 1c ist?»
«Der ist blöd. Der hat doch nur Sport im Kopf.»
«Und von Kevin?»
«Keine Ahnung. Ich weiß nur, dass der tierisch Mundgeruch hat.»
«Hm. Was ist denn mit Jan?»
«Jan?! Der ist doch total behindert!»
«Oder Steffen! Ich glaub, der ist ganz nett, und außerdem wohnt der bei uns in der Nähe!»
«Der ist voll der Streber, Mann.»
Nachmittags hatte ich Sport oder Musikunterricht, während Nick fast immer nur in unserem Zimmer hockte und sich irgendwie allein beschäftigte. Im Sommer kamen meine Freunde oft zu Besuch, weil wir so einen großen Garten hatten. Wir bauten uns eine kleine Hütte ganz hinten am Zaun, wo wir vom Haus aus nicht zu sehen waren.
Ich hätte Nick wahrscheinlich fragen sollen, ob er mitmachen wollte. Aber, na ja, ehrlich gesagt war er mit seiner komischen Art ein bisschen peinlich, und meine Freunde mochten ihn auch nicht besonders. Till hat mal gesagt, er wäre ihm unheimlich. Und außerdem hätte Nick mich bestimmt sowieso nur abblitzen lassen.
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4
G ewohnheitsmäßig gucke ich erst mal nach rechts und dann nach links, bevor ich aus der Haustür gehe. Ich checke alle am Straßenrand geparkten Autos und versuche zu erkennen, ob in einem davon jemand mit einer Kamera sitzt. Die ersten Schritte nach draußen mache ich immer ganz langsam, damit ich die Chance habe, wieder zurückzurennen und mich drinnen zu verschanzen, falls mir jemand auflauert. Schon krass, wie schnell einem so was zur Gewohnheit wird.
F rüher hab ich mich gern fotografieren oder filmen lassen. Auf Familienbildern war ich immer der Sonnyboy, während Dominik angepisst guckte, die Augen zuhatte oder gerade den Kopf wegdrehte. Wenn Freunde oder Verwandte in unseren Fotoalben blätterten, gingen sie immer total ab, weil ich so niedlich in die Kamera strahlte. Zu Nick sagten sie praktisch nichts.
Dominik sah
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