Klassenziel (German Edition)
einer von denen erkennt? Ich zwinge mich, tief durchzuatmen, und beruhige mich selbst mit dem Gedanken, dass meine neue Frisur mich total verändert hat.
A ls meine Grundschulzeit zu Ende ging, gab ich noch mal richtig Gas. Ich erledigte alle Hausaufgaben, lernte vor Prüfungen und hatte im Unterricht fast ohne Unterbrechung die Hand in der Luft. Ich wollte unbedingt aufs Gymnasium, so wie Nick. Weil ich so beeindruckt war von dieser Schule natürlich – aber auch, um Nick irgendwie beizustehen. Wie ich das genau machen sollte, wusste ich nicht. Nur dass er jemanden brauchte. Dummerweise ging es ihm nämlich auf der neuen Schule auch nicht besser als vorher.
Mein Plan funktionierte, mein Zeugnis war gut genug, ich kriegte die Zulassung. Die ganzen Sommerferien freute ich mich darauf, morgens mit meinem Bruder zusammen zur Schule zu fahren. Dass Nick absichtlich früher losging, wenn ich noch nicht fertig war mit Frühstücken, dass er sich im Bus woandershin setzte und auf dem Schulhof so tat, als wäre ich unsichtbar – damit hatte ich nicht gerechnet.
«Sag mal, bin ich dir eigentlich peinlich?», fragte ich ihn irgendwann.
«Wie kommst du denn darauf?»
«Na ja, weil du immer so tust, als würdest du mich nicht kennen.»
«Das ist doch Quatsch», antwortete Dominik.
Was hätte ich da noch sagen sollen?
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7
K urz vor acht bin ich in der Schule. Wie vereinbart melde ich mich im Sekretariat. Ich muss ein paar Minuten warten, dann kommt ein großer, breitschultriger Mann mit Bart rein, der wohl mein Klassenlehrer sein soll, auch wenn er aussieht wie ein kanadischer Eishockeyspieler. Meine Hand verschwindet in seiner Pranke.
«Ich bin Benjamin van Arcen», sage ich.
«Benjamin, schön. Dann komm mal mit, ich stell dich deiner neuen Klasse vor.»
Aha, und wann stellt er sich vor? Scheinbar setzt er voraus, dass sein Name weltweit bekannt ist. Wahrscheinlich stand er irgendwo in den Anmeldeunterlagen, aber ich hab ihn mir nicht gemerkt. Schön blöd.
Ich laufe dem Typen durch Gänge und über Treppen hinterher und bin sicher, dass ich niemals alleine den Weg zurück finde. Er geht außerdem so schnell, dass ich fast rennen muss, um nicht den Anschluss zu verlieren. Es ist kurz nach acht; vorhin hat die Schulglocke geläutet, und jetzt ist es ganz still in den Fluren.
Ohne abzubremsen, öffnet der Bärtige irgendeine Tür und prescht in ein Klassenzimmer. Ich stolpere hinterher und pralle fast gegen seinen Rücken, als er neben dem Lehrerpult abrupt stehen bleibt. Die Schüler brechen ihre Gespräche ab und setzen sich an ihre Plätze. Einige kichern. Dann kehrt gespanntes Schweigen ein.
Vielleicht hat Dominik sich seine gesamte Schulzeit hindurch so gefühlt wie ich jetzt: fremd, ausgeschlossen, fehl am Platze. Das ist zwar echt kein guter Zeitpunkt für so was, aber ich merke, dass ich gleich in Tränen ausbrechen könnte. Fehlt nur noch eine winzige Kleinigkeit. Wahrscheinlich liegt das daran, dass ich gerade so angespannt und nervös bin.
Nick war mein Bruder, mein einziger Bruder, und egal wie er war und was er getan hat: Ich hab ihn geliebt. Es schweißt einen zusammen, wenn man fünfzehn Jahre lang unter demselben Dach wohnt, dieselben Erziehungsmaßnahmen über sich ergehen lässt und vom selben Geschirr isst.
Und ja, ich vermisse ihn, verdammt noch mal, ich vermisse ihn wirklich.
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8
W ir haben einen neuen Mitschüler», sagt der Klassenlehrer. Und ich denke: Wieso wir? Zählt der auch zu den Schülern? Wie zur Strafe für meine Gedanken dreht er sich zu mir um: «Am besten stellst du dich mal kurz selbst vor.»
Ich schnappe nach Luft. Auf so was bin ich überhaupt nicht vorbereitet. Wozu dann diese ganze Farce mit dem Abholen im Sekretariat, wenn ich jetzt doch alles alleine regeln muss?
«Ach so, also, ja. Ich heiße Jam… äh, Benjamin van Arcen und komme aus Vi… aus, äh, Nordrhein-Westfalen.» Ich kann unmöglich Viersen sagen. Viersen kennt inzwischen die halbe Welt. Wenn ich diese Stadt erwähne, weiß jeder sofort, wer ich bin. Verdammt! Für wie bescheuert müssen die mich halten, dass ich hier so rumstottere?
«Ich bin, ähm, gerade erst nach Berlin gezogen. Ich wohn hier in der Nähe. Eichkampsiedlung.» Mit einer Hand wedele ich vage in die Richtung, wo ich unser Haus vermute. «Und, na ja, was noch? Ich bin fünfzehn.» Ich schiele zum Lehrer rüber in der Hoffnung, dass er mich endlich erlöst. Mir fällt einfach nichts mehr
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