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Kleine Freie Männer

Kleine Freie Männer

Titel: Kleine Freie Männer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Terry Pratchett
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so dass man den eigenen Bruder als Köder für ein Ungeheuer benutzt.« Die Königin seufzte.
    307
    »Leider passiert so was immer wieder. Ich glaube, du
    solltest stolz darauf sein, dass du nicht schlimmer bist als die extrem Introvertierten und Milieugeschädigten.«
    Sie ging um Tiffany herum.
    »Wie traurig«, fuhr sie fort. »Du träumst, dass du stark, vernünftig und logisch bist … die Art von Person, die
    immer einen Bindfaden dabei hat. Aber das ist nur deine Entschuldigung dafür, nicht richtig menschlich zu sein. Du bist nur ein Gehirn ohne Herz. Du hast nicht einmal
    geweint, als Oma Weh starb. Du denkst zu viel, und jetzt hat dich dein ach so kostbares Denken im Stich gelassen.
    Ich glaube, es ist das Beste, wenn ich dich einfach töte, meinst du nicht?«
    Nimm einen Stein!, riefen die Dritten Gedanken. Schlag sie!
    Tiffany bemerkte andere Gestalten in der Düsternis.
    Einige von ihnen stammten aus den Sommerbildern, aber
    sie sah auch Trome, den kopflosen Reiter und die HummelFrauen.
    Um sie herum kroch Raureif über den Boden.
    »Ich glaube, es wird uns hier gefallen«, sagte die
    Königin.
    Tiffany spürte, wie ihr die Kälte durch die Beine kroch.
    Ihre Dritten Gedanken schrien heiser vor Anstrengung: Tu etwas!
    Sie hätte alles besser organisieren sollen, dachte sie matt. Sie hätte sich nicht allein auf Träume verlassen sollen. Oder … vielleicht hätte ich ein richtiger Mensch sein sollen. Mit mehr … Gefühl. Aber ich … konnte
    308
    einfach nicht weinen! Die Tränen … kamen nicht! Und wie kann ich aufhören zu denken? Und übers Denken
    nachzudenken? Wie soll ich auch nur aufhören daran zu
    denken, übers Denken nachzudenken?
    Sie sah das Lächeln in den Augen der Königin und
    dachte: Welche von all den Personen, die hier denken, bin ich?
    Habe ich überhaupt ein richtiges Ich?
    Wolken glitten wie Flecken über den Himmel, und das
    Licht der Sterne verschwand hinter ihnen. Es waren die tintenschwarzen Wolken aus der kalten Welt, die Wolken der Albträume. Es begann zu regnen, und mit dem Regen
    kam das Eis. Wie Geschosse trafen Regentropfen und
    Eisbrocken auf den Boden und verwandelten ihn in
    kreidigen Schlamm. Der Wind heulte wie ein Rudel
    Todeshunde.
    Es gelang Tiffany, einen Schritt vorzutreten. Der
    Schlamm saugte an ihren Stiefeln.
    »Oh, ein wenig Temperament?«, fragte die Königin und
    wich zurück.
    Tiffany versuchte, einen weiteren Schritt vorzutreten, aber es funktionierte nicht mehr. Sie fror zu sehr, war zu müde und fühlte, wie sich ihr Selbst auflöste …
    »Wie traurig, so zu enden«, sagte die Königin.
    Tiffany fiel nach vorn in den gefrierenden Schlamm.
    Es regnete noch stärker, und die Tropfen stachen wie
    Nadeln, hämmerten ihr auf den Kopf und rannen wie eisige Tränen über ihre Wangen. Der Regen fiel mit solcher
    Wucht, dass Tiffany der Atem stockte.
    309
    Sie spürte, wie die Kälte die ganze Wärme aus ihr
    absaugte. Und das war die einzige Wahrnehmung,
    abgesehen von einem musikalischen Ton.
    Er klang wie der Geruch von Schnee oder das Funkeln
    von Raureif. Er war hoch und dünn und lang gezogen.
    Tiffany fühlte den Boden nicht mehr, und es gab nichts zu sehen, nicht einmal die Sterne. Die Wolken bedeckten alles.
    Ihr war so kalt, dass sie weder die Kälte fühlte noch ihre Finger. Ein Gedanke schaffte es, durch ihr gefrierendes Bewusstsein zu kriechen. Gibt es mich überhaupt? Oder
    träumen meine Gedanken nur von mir?
    Die Schwärze wurde tiefer. Die Nacht war nie so
    schwarz gewesen, und der Winter nie so kalt. Es war kälter als der tiefste Winter, wenn der Schnee kam und Oma Weh von Schneewehe zu Schneewehe stapfte, auf der Suche
    nach warmen Körpern. Die Schafe konnten den Schnee
    überleben, wenn der Schäfer klug war, hatte Oma Weh
    gesagt. Der Schnee hielt die Kälte fern. Die Schafe
    überlebten in warmen Hohlräumen unter Dächern aus
    Schnee, während darüber bitterkalter Wind wehte und
    ihnen nichts anhaben konnte.
    Aber dies war die Kälte jener Tage, an denen es so kalt wurde, dass kein Schnee fallen konnte, und der Wind war die Kälte selbst und blies Eiskristalle über die Wiesen. Auf diese Weise kam der Tod zu Beginn des Frühlings, wenn
    die Lammungen begonnen hatten und der Winter noch
    einmal heulend zurückkehrte…
    Überall war Dunkelheit, kalt und ohne Sterne.
    310
    In der Ferne flackerte ein Lichtfleck.
    Ein Stern. Tief. Und er bewegte sich…
    Er wurde größer in der stürmischen Nacht.
    Im Zickzack kam er näher.
    Stille

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