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Kleine Philosophie der Passionen - Radfahren

Kleine Philosophie der Passionen - Radfahren

Titel: Kleine Philosophie der Passionen - Radfahren Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Klonovsky
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sich nicht vor der ersten Alpenetappe an irgendwelchen vergammelten Eiweißpräparaten den Magen verdorben und so viel Zeit verloren hätte, dass er nie näher als 15 Sekunden an Armstrong herankam. 2004 folgte das übliche Theater: Absagen von Rennen in der Vorbereitung wegen Krankheit und Trainingsrückstand, dann eine Erkältung in den Pyrenäen, die Armstrong frühzeitig einen soliden Vorsprung verschaffte. 2005 flog er vor dem Prolog ins Heckfenster seines Begleitfahrzeuges und stürzte auf einer der ersten Etappen, so dass er mit geprelltem Brustkorb, also atmungsbehindert, ins Gebirge musste.
    Ich weiß nicht, woran es liegt, aber Armstrong ist während seiner sieben gewonnenen Touren lediglich ein Mal und folgenlos beziehungsweise eher zu seinen Gunsten gestürzt – ich meine 2003 auf dem Anstieg nach Luz-Ardiden –, Ullrich in derselben Zeit drei Mal spektakulär und zwei Mal mit Folgen – neben der besagten Brustkorbprellung noch beim Regenzeitfahren in Nantes 2003. Armstrong hat sich nie denMagen verdorben, und er hatte nie Übergewicht. Sein einziger Hungerast – 2000 am Joux-Plane – kostete ihn keine zwei Minuten und keinen Toursieg (Pantani hätte ihn Ullrich 1998 wegen seiner klaren Unterlegenheit im Zeitfahren sonst nie wegschnappen können). Armstrong hat nie solche taktischen Fehler begangen wie Ullrich etwa 2003, als er auf der letzten Pyrenäen-Etappe schon am Anstieg zum Tourmalet angriff; er hat sich genau genommen nie einen taktischen Fehler geleistet. Armstrong hat auch nie Sekunden verschenkt wie Ullrich, der meist schon beim Prolog damit anfing und jedes Jahr aufs Neue erklärte, das spiele keine Rolle, die Tour werde später entschieden und so weiter. Armstrongs Truppe hat das Mannschaftszeitfahren immer gegen Ullrichs Team gewonnen, das heißt, der Amerikaner lag stets vor dem Deutschen, wenn es ins Gebirge ging, und immer war es Ullrich, der attackieren musste, er schleppte Armstrong regelmäßig wie ein Edelhelfer, bis der antrat und davonschwirrte; insofern besaß Armstrongs ironisches Angebot, er möge in seine Mannschaft kommen und für ihn fahren, durchaus einen rationalen Kern.
    Es war schon ein merkwürdiger Zweikampf all die Jahre. Exemplarischere Antipoden als die beiden kann man sich jedenfalls kaum wünschen. Beide wuchsen ohne Vater auf und stammten aus bescheidenen Verhältnissen, aber damit hätten sich die Gemeinsamkeiten. Während sich der Texaner als Sportsolist (anfangs als Triathlet) durchschlug, bekam der Ostdeutsche auf der Kinder- und Jugendsportschule kollektivistischen Schliff. Armstrong wollte der Chef sein, Ullrich im Grunde bloß der Mannschaft dienen. 1996 startete Ullrich erstmals bei der Tour de France und wurde, als Helfer des späteren Siegers Bjarne Rijs, mit 1:41 Minuten Rückstand sensationell Zweiter; etwas weniger »Wir« im Kopf,und er hätte damals schon gewonnen. Das Radsportmagazin L’Equipe kürte den 2 2-Jährigen zum »vielleicht selbstlosesten Mannschaftskollegen in der Geschichte der Tour« – ein auf Armstrong allzeit unanwendbares Attribut.
    1997 feierte die Prominenz den ersten deutschen Tour-Sieger als Halbgott. Ullrich sei stärker als er früher, erklärte der Fünffach-Sieger Miguel Indurain. Eddy Merckx, ein anderer Fünffach-Sieger, prophezeite, der Deutsche werde die Tour noch öfter gewinnen als er. Wer sollte ihn auch schlagen? Der dafür in Frage kam, wusste es selber noch nicht, denn er rang gerade mit dem Tode. Als Ullrich seinen größten Triumph einfuhr, wurde bei Armstrong Hodenkrebs im fortgeschrittenen Stadium mit Metastasen in Lunge und Gehirn diagnostiziert. Bei seinen vorherigen Tourteilnahmen hatte der Amerikaner keine Rolle gespielt, er war keineswegs »der kommende Mann im Radsport«, wie auf dem Cover seines ersten Buches ›Tour des Lebens‹ später suggeriert wurde; nur einmal, 1995, beendete er die Rundfahrt überhaupt (auf Platz 36), im Jahr darauf, als Ullrich der beste aller Helfer war, brach er sie nach fünf Etappen ab.
    Doch während Armstrong wie durchs Feuer gegangen ins Leben zurückkehrte, während er mit derselben Energie und Verbissenheit, mit welcher er seine Krankheit niederrang, daranging, wieder Radrennen zu absolvieren – und ein völlig anderer, dünnerer, extrem körperfettarmer, in seiner Willensstärke kaum mehr diesseitiger Fahrer wurde –, begannen sich die mentalen Probleme des Jan Ullrich zu offenbaren. Der hatte nämlich nicht die rechte Lust, wie er sagte, »365 Tage im Jahr

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