Kleine Philosophie der Passionen - Radfahren
Veitstänzen jener venerablen Vitalitätsgranaten, jedoch objektiv mit demselben kosmischen Problem beladen, zu welchem sich bei der äußersten Anstrengung und dem gleichzeitigen Gewahrwerden der äußersten Kraftlosigkeit ein besonders inniger Bezug herstellt, wie ihn nicht einmal der Vollrausch hinkriegt; allenfalls hohes Fieber schafft so etwas. »Immer wenn du einen Augenblick vollkommener Lebendigkeit erlebst, wirst du plötzlich auch den Tod sehen«, sprach der indische Mystiker Osho.
Die Olympier schauen mit spöttischem Lächeln auf jeden dieser strampelnden Sterblichen an serpentinendurchzogenen Gebirgsflanken nieder. Eine mühsam erkämpfte Bergankunft ist für sie das Sinnbild des Lebens jener Gattung, die auf dem Olymp nicht heimisch sein darf. Und doch beneiden sie uns um die großen, sinnlosen Leidenschaften, zu denen für sie kein Weg führt, weil nur der Sterbliche die Sehnsucht nach der im gelungenen Augenblick geronnenen Ewigkeit kennt.
Am Ende harrt Freund Hein, der große Egalisierer und Anti-Meritokrat, der weder Gewinner noch Rekorde kennt, sondern nur Termine. Da er auf jeden wartet, ist die Aussage zutiefst trivial. Nicht trivial indes ist die Frage, bei welcher Gelegenheit man mit ihm zusammentrifft.
Ohne die Möglichkeit eines üppigen finalen Gelages oder auch Beilagers gering zu schätzen, hieße meine Lieblingsoption derzeit immer noch: auf dem Rad.
Informationen zum Buch
Radfahren ist mehr als stumpfsinnige Pedaltreterei, meint der Autor, nämlich – unter anderem – Tanz, geistig-seelische Entschlackung, Schmerzgenuss, Präludium (und Freibrief) für jede Art Bacchanal, mitunter auch erotisches Vorspiel, jedenfalls nicht nur eine Tätigkeit der Muskeln, sondern nicht minder des Kopfes. Seine Analyse beruht auf jahrelangem Selbstversuch und erstreckt sich thematisch von Aristoteles bis Armstrong (Lance), von Wiegetritt bis Wagner (Richard). Der Verfasser unterlässt es keineswegs, darauf hinzuweisen, dass wie allen Passionen auch dieser neben ihrer emi- und permanenten Glücksversprechenseinlösung ein gewisses Maß an Bescheuertheit eignet.
Informationen zum Autor
Michael Klonovsky
, geboren 1962, lebt in München, arbeitet als Chef v. Dienst bei ›Focus‹ und fährt beileibe nicht so oft Rad, dass er nicht nebenher noch das eine oder andere Buch schreiben könnte, zum Beispiel die Romane ›Land der Wunder‹ (Zürich 2005) und ›Der Ramses-Code‹ (Berlin 2001).
Fußnoten
Tanzstunde oder: Wie man stehend vorankommt
1
Mit nur geringer hermeneutischer Kühnheit lässt sich der Kehrreim zudem als innerer Jan-Ullrich-Monolog in Richtung Lance Armstrong interpretieren: »Ohne dich kann ich nicht sein/Mit dir bin ich auch allein/Ohne dich zähl ich die Stunden/Mit dir stehen die Sekunden«.
Die Frau in Rot oder: Eine Begegnung in den Pyrenäen
1
»Dies ist die müde verzückung/Dies ist der liebe bedrückung« – so übersetzte es Stefan George.
2
»Mit Nadeln ist das Lager mir gespickt/Grausame Mädchen werden dort erquickt.«
3
»Sei ruhig, o mein Schmerz, und sei besonnen./Den Abend wolltest du; sieh her; er kam:/Ein dunkler Hauch hat schon die Stadt umsponnen,/Den einen bringt er Frieden, andern Gram.« (Ich folge in beiden Fällen der Übersetzung von Monika Fahrenbach-Wachendorff)
Exkurs: Potenzialität versus Fanatismus oder: Ullrich oder Armstrong?
1
Wenn Sie mich fragen, war er sogar der größte Sportler aller mir bekannten Zeiten, trotz Muhammad Ali, trotz Alexander Karelin, wobei ich im Voralpenland hin und wieder einen einbeinigen älteren Herren auf dem Rennrad
getroffen habe, der mir am Ende fast noch mehr imponierte als der Texaner.
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