Kleine Portionen
Tante, meine Cousine und ich umringten meine Mutter wie Bodyguards, wimmelten die aufdringlichsten Freundschaftsbekundungen ab.
Der Platz um die Kirche war überfüllt. Ich sah ehemalige Lehrer wieder, Freunde meines Vaters. Der ganze Familienclan hatte sich ebenfalls versammelt. Tanten, Onkel, Cousins waren sogar aus Deutschland und der Schweiz angereist. Wir betraten die Kirche erhobenen Hauptes, klammerten uns aneinander, hielten uns gegenseitig. Wir waren schon immer eine zusammengeschweißte Familie gewesen. Eine Familie mit starken Bindungen. In guten wie in schlechten Tagen.
Die Messe musste über Lautsprecher übertragen werden, weil die Dorfkirche für alle Trauernden zu klein war. Ich hörte dem Priesters gar nicht zu. Er war neu, hatte keinen der Toten gekannt. Meine Augen waren auf die drei Särge vor dem Altar gerichtet. Dann, mitten in der Messe, begann ein Männerchor zu singen. Das Lieblingslied meines Vaters, »Hörst du das Lied der Berge? Die Berge, sie rufen dich …«
Versteinert saß ich auf der harten Holzbank und lauschte den Worten, zitterte, Tränen liefen über meine Wangen. Ich war schlussendlich gezwungen mir einzugestehen, dass mein Vater dieses Lied nie wieder hören würde. Er würde den Ruf der Berge auch nie wieder hören. Er war ihm das eine Mal zu viel gefolgt.
Als alles vorüber war, wurden die Särge in schwarze Limousinen verfrachtet. Mein Vater sollte am Nachmittag eingeäschert werden. Meine Mutter bat mich, einem Mann zu danken, den sie mir zeigte. Er war der Dorfgendarm, der ihr die Nachricht vom tragischen Unfall überbracht hatte. Er war das, was man einen »richtigen« Mann nannte, mit Schnurrbart, gebräuntem Gesicht, festem Händedruck. Der typische ernste, unmanierierte Mann. Während er meinen Dankesworten lauschte, weinte er still wie ein kleines Kind.
Immer, wenn ich ins Dorf zurückkomme, stelle ich eine Kerze auf das Grab meines Vaters. An seinem Geburtstag, zu seinem Todestag zünde ich ein Räucherstäbchen an. Aber ich brauche solche Rituale eigentlich nicht, um an ihn zu denken. Immer wenn ich sein Foto auf meinem Bücherregal anschaue, grüße ich ihn, lächle ihn an, greife nach ihm, egal wo er jetzt auch sein mag.
Ich weiß, dass er auf mich aufpasst.
Herbstblues
Es ist ein seltsamer Herbst. Der Wind fegt durch Paris, als ob er sich der letzten Sommerreste entledigen wollte, als ob er uns in Richtung Winter hetzen wollte, als ob er die Autos und Menschen wegblasen wollte. Eine bluesige Stimmung schwebt in der Luft, müde und wehmütig seufzt die Stadt.
Unter einem grau gestreiften Marmorhimmel gehe ich die Straße hinunter, bereite mich auf Regen vor, der möglicherweise jeden Moment fallen könnte, möglicherweise aber auch nicht; mein Schal flattert heftig; die morgendliche Atmosphäre erinnert mich an eine Frau mitten im Baby-Blues. Sie weint nicht der Geburt des Babys nach, trauert nicht, weil etwas Neues beginnt, sondern weil etwas zu Ende geht, weil sie etwas verliert: nämlich diese vorhergegangene, intime Verbindung, die wir Männer uns nur vorstellen können; das Gefühl, zwei Personen in einem zu sein; das Gefühl, dass sie ihr Kind sicher hält und behütet, und dass sie hinkünftig nie wieder in der Lage sein wird, es so wirksam zu schützen. Wir trauern immer um etwas, das zu Ende gegangen ist. Trauer ist eine rückwärts gewandte Haltung.
Auf ähnliche Weise scheinen wir derzeit einem Verlust nachzuweinen, einer Seite, die umgeblättert wurde, und wir verabschieden uns mürrisch und schlecht gelaunt vom Sommer und von den sonnigen Tage und von den späten, lauen, duftenden Abenddämmerungen und von all der Leichtigkeit.
Menschen hasten zur U-Bahn, hasten zum Bus, hasten ins Büro, kämpfen mit bunten Jacken und Mützen und Schals gegen die graue Schäbigkeit der Morgenstunde an. Kinder tragen Schulranzen, die größer als sie selbst sind, zur Schule. Auch für sie hat die Schwere des wirklichen Lebens jene illusorische Zeit ersetzt, in der wir nur leben, um zu leben, jene sorglose Existenz, die wir alle anscheinend in diesem Sommer genossen haben. Alles ist schwerer geworden, grauer, düster-bedeutender, während die Freude zeitgleich mit dem Tageslicht schrumpft.
Es ist ein seltsamer Herbst. Ich weiß, was mich in der Arbeit erwartet. Wie Herbstblätter in einer kalten Brise flattern und wirbeln meine Kunden unentschlossen herum, können sich nicht entscheiden, in welche Richtung sie weiterwollen. Sie sind anstrengend. Wissen
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