Kleine Portionen
sie nicht, dass wir letztendlich immer den gleichen Weg einschlagen wie die Blätter? Es geht doch am Ende immer nach unten.
Ein seltsamer Herbst, ja. Und dennoch – das Wissen, dass wir, wenn wir fallen, zuletzt immer auf dem Boden landen, dass wir immer einen Punkt erreichen, wo wir nicht mehr tiefer fallen können – dieses Wissen wärmt mich ein wenig auf. Ich stopfe die flatternden Enden meines Schals in meine Jeansjacke, sage mir »Lass dich in den Herbst fallen, es gibt ohnehin keinen Weg zurück« und pfeife vor mich hin.
Paris, hier bin ich!
Ich kam im Jahr 1994 nach Paris. Ich hatte gerade mein Studium beendet, dachte, ich hätte alles gesehen, was es in Wien zu sehen gab, und wollte die Welt entdecken. So bewarb ich mich beim Unterrichtsministerium um einen Job als Deutschassistent. Sie schickten mich nach Paris, um französischen Schülern Deutschunterricht zu geben. Nichts von alledem war geplant, nichts war vorbereitet.
Ich landete in einem Oberklassen-Lycée im vornehmen 16. Arrondissement von Paris. Eine Schule, die nach Arroganz und Geld und wohlhabenden Eltern stank. Das erste, was die Hausmeisterin mir mitteilte: »Benehmen Sie sich ja ordentlich! Der Neffe des Premierministers besucht nämlich diese Institution, müssen Sie wissen!«
Wow! Der Neffe des Premierministers! Ich hätte eine Gänsehaut kriegen sollen, wenn es mich tangiert hätte.
Der deutsche Hauptprofessor war ein glühender Kommunist. Ein Kommunist, der im versnobten 16. Arrondissement wohnte, wohlgemerkt. Ich sollte mich bald an den französischen Sinn für Widersprüche gewöhnen. Die Deutschklassen wurden zwischen mir und einem lesbischen Mädchen aus Deutschland aufgeteilt. Wir wohnten schließlich sogar in einer kleinen Wohnung zusammen und wurden gute Freunde. Ein Mädchen aus Spanien übernahm den Spanischunterricht. Und dann gab’s noch zwei Englischassistenten, einen schüchternen Briten und ein amerikanisches Mädchen mit großen Zähnen. Ihr Verhalten erinnerte mich an eine eifrige christliche Missionarin. Das erste Mal, als ich sie traf, stellte sie sich mit den Worten vor: »Hei! Ich bin die Missy!«
Ich wusste nicht, dass Missy (was eigentlich herablassend »Fräuleinchen« bedeutet) ein Vorname war. Sie schien sogar sehr stolz darauf zu sein. Aber egal.
Wir hatten eine formelle Sitzung mit den Sprachlehrern und der Direktorin des Lycées. Diese Dame hielt eine steife Rede über die Werte und die hohen Standards der Institution, listete die »Darf man tun«- und »Darf man so überhaupt gar nicht tun«-Regeln auf. Sie konnte mich auf Anhieb nicht ausstehen. Natürlich – ich war in Schwarz gekleidet, trug Doc Martens, hatte drei Ringe im Ohr und einen in der Nase. Meine lesbische Kollegin war auch ganz in Schwarz gehüllt. Wir sahen aus wie auf einer Beerdigung.
Nach der dumpfen und langatmigen Rede bekamen wir ein Glas Champagner angeboten. Die Schulleiterin beschloss, wir sollten noch etwas Small Talk machen. Sie drehte sich zu mir, ein falsches Lächeln auf den schmollend geschürzten Lippen, und sagte: »So. Sie sind aus Österreich, wie es scheint. Wo kommen Sie denn genau her? Aus München?«
Wäre in dem Augenblick eine Nadel auf den Boden gefallen, wir hätten alle ihren Aufprall gehört. Niemand wagte es, die Direktorin anzusehen, aus Angst laut loszulachen. Eine Frage stand klar im Raum: »Wie sagen wir’s zartfühlend – München liegt in Deutschland?«
Ich wusste dann, dass man eine steife, aufgeblasene französische Schuldirektorin in einer Oberklassenschule sein und dennoch ein dummer, kulturloser Trottel bleiben konnte! Dadurch fühlte ich mich mit einem Mal gleich viel besser.
Salat und Small Talk
Die Pariser organisieren gerne Abendessen. Sie laden ihre Freunde ein, sie laden ihre Familie ein, sie laden ihre Kollegen ein. Sie kochen. Auch wenn manch einer der Küche besser fernbleiben sollte.
Einmal waren wir drei – Etienne, Vanessa und ich – zum Abendessen bei Francine eingeladen. Francine war eine alte Freundin von Etienne. Sie hatten sich am HEC, einer renommierten, französischen Handelsschule, kennengelernt. Francine kam aus einer wohlhabenden Familie, ihr Vater war Geschäftsführer in einem wichtigen Unternehmen gewesen, irgendwas mit Öl oder Gas oder Elektrizität.
Francine, wie es ihr sozialer Status verlangte, wohnte in Neuilly, dem noblen Vorort westlich von Paris. Sie war ein nettes Mädchen, sah gut aus und besaß eine natürliche Naivität und Wärme, die
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