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Kleine Verhältnisse

Kleine Verhältnisse

Titel: Kleine Verhältnisse Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Franz Werfel
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Bade saß und es in ihm zu sagen begann:

    »Ich bin Neptun, der Gott des Wassers. Ich schwimme, wohin ich will.
    Die Wellen kitzeln mich, denn das haben sie gerne. Fische kommen, große und kleine,
    Sie begrüßen mich steuerbords und backbords. Doch auch Fischinnen kommen, ich spüre sie.
    Und dann schwimmen wir alle, Fischinnen und Fische,
    Wir schwimmen, wohin wir wollen.
Durch das Meer schwimmen wir,
Das Meer ist groß und langweilig.
Dann schwimmen wir in die Flüsse.
Die Flüsse sind die kleinen Verhältnisse des Meeres.
Manchmal verirren wir uns auch in die Brunnen.
Brunnen gibt es in alten Haushöfen.
Sie sind die armen Leute des Wassers.«

    Ernas Stimme unterbrach diese neptunische Ballade, die so oder ähnlich lautete:
    »Bist du noch immer nicht fertig, Hugo, es ist schon
sehr spät.«
»Komm doch herein, Erna!«
»Nein! Steig erst aus dem Wasser!«
    Das war neu. Erna hatte doch bisher immer bei Bad und Waschung tätige Aufsicht geübt. Warum denn blieb sie jetzt vor der Tür stehn? Nach einer Weile entriß sich Hugo der Umarmung des Wassers und stieg aus der Wanne. Erna trat noch immer nicht ein:
    »Bist du schon draußen? Hast du das Badetuch um?«
    Jetzt erst, nachdem Hugo dies bejaht hatte, kam sie herein. Auch sie schien eine gründliche Reinigung vorgenommen zu haben. Der blaue Schlafrock wallte um ihren Leib, das frischgewaschene Haar war von Tüchern eingehüllt, und die nackten Füße steckten in Sandalen. In diesem Aufzug erinnerte die hohe, pathetisch geformte Erna an die Darstellung griechischer Göttinnen und Heldenfrauen, wie sie Hugo aus Gustav Schwabs illustriertem Sagenbuch kannte und liebte. Jetzt krempelte sie wie immer die Ärmel ihres Negliges hoch über die Arme und begann mit treulicher Kraft, die ihr aus innerster Seele zu dringen schien, Hugos Körper zu frottieren. Er überließ sich gerne ihrem starken Walten, das ihn von allen Seiten warm umhüllte. Nun kniete sie vor ihm nieder, stemmte seine Füße gegen ihre Brüste und begann gewissenhaft, ihm die Schenkel abzureiben. Hiebei löste sich der aus Handtüchern gewundene Turban, den sie um den Kopf trug, und ihre Haare felen frei herab. Eine Wolke von Kamillenduft schlug Hugo entgegen: Ernas, des Weibes Duft, von nun an fürs Leben.
    Er lag schon zu Bett. Sie zögerte ein wenig, aus dem Zimmer zu gehen, und sagte langsam:
    »Gute Nacht, Hugo!«
    Er dehnte sich von wohligem Frieden erfüllt und blinzelte sie an:
    »Nicht wahr, Erna, jetzt ist alles in Ordnung.« Als wäre sie glücklich, noch eine Minute verweilen zu können, setzte sie sich auf den Bettrand:
    »Ja, hab keine Sorge, es wird schon alles in Ordnung kommen, Hugo …« Und mit einem Seufzer: »Ich danke dir auch recht schön für alles!«
    Hugo setzte sich im Bett auf:
    »Hör einmal, Erna! Wir müssen nächstens wieder zu deiner Mutter und zu Albert gehn! … Nicht? … Sobald wie möglich. Glaubst du, daß mir Albert seine Erfndung erklären wird?«
    »Ja, natürlich! Wir werden nächstens hingehn, Hugo … Aber jetzt … Schlaf wohl!«
    Sie erhob sich und schaltete das Deckenlicht aus, so daß nur mehr die Bettlampe brannte. Hugo aber rief:
    »Nein! Komm noch einmal her!«
    Langsam gehorchte Erna dieser Lockung. Der Knabe ergrif ihre Hand und sah sie fest an:
    »Du gehst nicht fort! Was!?«
    Sie lachte hilfos. Ihr Mund verschob sich leicht. Dann beugte sie sich über Hugo, ohne ein Wort zu sagen. Seine Stimme war auf einmal rauh und tief geworden:
    »Nein! Du gehst nicht fort! Aber weißt du, was ich getan hätte, wenn du fortgegangen wärst? …« Erna beugte sich tiefer über das Bett. Ihre Lippen gingen fragend auf. Hugos Nägel verkrallten sich leidenschaftlich in ihre Hand:
    »Ich wäre mit dir gegangen, Erna … ganz weit weg … ganz fort von hier … in die kleinen Verhältnisse … Erna, das mußt du mir glauben!« Und er ließ einen wilden Blick durch das mild-erleuchtete Dunkel des großen Zimmers schweifen, als hasse er es mitsamt seinen weißlackierten Möbeln und Turngeräten. Erna, noch immer über ihn gebeugt, rührte sich nicht. Da packte er auch ihre andere Hand mit solch heftigem Ruck, daß sich der Schlafrock verschob und ein Stück ihrer Schulter entblößte. Er aber keuchte fast weinend:
    »Ich war mit dir gegangen, Erna … Fort von hier, von Mama … Ich muß ja nicht ins Gymnasium gehn … Ich könnte bei Albert lernen … Sein Gehilfe werden … Wir würden miteinander Geld verdienen … Aber jetzt bleibst du ja bei uns, Erna … Du

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