Klex in der Landschaft
von wem er geboren worden war, davon hatte er nicht die leiseste Ahnung. Präziser als bis zum Datum seiner Entdeckung im Damenklo des Dresdner Hauptbahnhofs konnte er sich seinem Geburtstag nicht nähern, und da die Klofrau jegliche Verantwortung für sein Auftauchen in diesem Etablissement von sich gewiesen hatte, obwohl die zuständigen Behörden ihr deswegen hart zugesetzt hatten, war ihm absolut schleierhaft, wer seine Mutter war – von seinem Vater ganz zu schweigen. Er konnte nicht einmal sicher sein, daß seine Eltern Deutsche waren. Nach allem was er und die Behörden wußten, konnten seine Eltern genausogut Juden sein, obwohl sogar der Direktor des Reichsrassenklassifizierungsamts damals die unlogische Liebenswürdigkeit besessen hatte, zuzugeben, Juden hätten in der Regel nicht die Angewohnheit, ihre Sprößlinge in Bahnhofstoiletten auszusetzen. Wie auch immer, diese Möglichkeit umgab Klexens Jugend im Dritten Reich mit einem zusätzlichen Element der Unsicherheit, und sein Aussehen hatte ihm auch nicht weitergeholfen. Zweifellos gab es dunkelhaarige, hakennasige Arier, doch Klex, der sich für diese Frage inzwischen zwanghaft interessierte, hatte nur wenige auftreiben können, die sich gern mit ihm über ihre Ahnentafel unterhielten. Jedenfalls war keiner bereit, ihn zu adoptieren, und selbst das Waisenhaus neigte dazu, ihn in den Hintergrund zu schieben, wenn Besucher kamen. Und was die Hitlerjugend anging ...
Klex zog es vor, seine Jugend zu vergessen, und selbst die Erinnerung an seine Ankunft in England löste bei ihm immer noch ein Gefühl der Beklommenheit aus.
Es war eine dunkle Nacht gewesen, und Klex, den man in einen italienischen Bomber gesteckt hatte, damit er der Besatzung das Rückgrat stärkte, hatte die Gelegenheit beim Schöpf ergriffen und war emigriert. Außerdem hegte er den dringenden Verdacht, daß sein Staffelführer ihm nur deshalb den Befehl gegeben hatte, sich freiwillig den Italienern als Navigator zur Verfügung zu stellen, weil er hoffte, Klex würde nicht zurückkehren. Dies schien die einzige Erklärung für seine Wahl zu sein, und Klex, der vorher nur Erfahrungen als Heckschütze gesammelt hatte, wobei sein einziger Beitrag zum Kriegsgeschehen der Abschuß zweier Messerschmitt 109 gewesen war, die eigentlich seine Bomberstaffel als Geleitschutz begleiten sollten, hatte die Erwartungen seines Staffelführers peinlich genau erfüllt. Sogar die italienischen Flieger, durch die Bank kleinmütige Leute, waren erstaunt gewesen, als Klex beharrlich darauf bestand, daß Margate im Herzen von Worcestershire liege. Nach einer erregten Auseinandersetzung warfen sie ihre Bomben über Exmoor ab und wollten gerade über den Bristol-Kanal in Richtung Straße von Calais zurückfliegen, da ging ihnen über den nordwalisischen Bergen der Sprit aus. Nun war der Punkt erreicht, an dem die Italiener beschlossen, auszusteigen; sie probierten gerade, Klex – dessen Italienischkenntnisse nicht der Rede wert waren – den Ernst der Lage zu klären, da wurde ihnen diese Mühe durch das Eingreifen eines Bergs erspart, der, Klexens Orientierungssinn zufolge dort gar nicht hätte sein dürfen. Klex war der einzige Überlebende des nun folgenden Infernos, und da er am nächsten Morgen von einer Suchmannschaft nackt im Wrack eines italienischen Bombers entdeckt wurde, nahm man natürlich an, er müsse Italiener sein.
Daß er kein einziges Wort in seiner Muttersprache sagen konnte, irritierte niemanden, am allerwenigsten den Major und Chef des Kriegsgefangenenlagers, in das man Klex steckte, einfach weil der Major auch kein Italienisch konnte und Klex sein erster Gefangener war. Erst viel später, als etliche echte italienische Gefangene aus Nordafrika eintrafen, tauchten Zweifel an seiner Nationalität auf; doch inzwischen hatte Klex seine gute Absicht unter Beweis gestellt, indem er keinerlei Interesse am Kriegsgeschehen zeigte und eine echt italienische Abneigung gegen den Krieg an den Tag legte. Zudem erklärte seine Behauptung, er sei als Sohn eines Schäfers in Tirol zur Welt gekommen, seine fehlenden Italienischkenntnisse. 1942 wurde das Lager ins Haus Handyman verlegt und Klex nahm das Anwesen als sein Zuhause an. Das Herrenhaus und die Familie Handyman sagten ihm zu. Beide verkörperten den Inbegriff des Englischen, und seiner Ansicht nach konnte es kein größeres Lob geben. Engländer zu sein, war die höchste Tugend, und Gefangener in England war immer noch besser, als sonst irgendwo
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