Die Toten von Santa Clara: Roman (German Edition)
RAFAEL
(im Dunkeln blinzelnd )
H abe ich Angst? Wenn ich neben Lucía im Bett liege und mein kleiner Mario nebenan im Schlaf aufschreit, habe ich eigentlich keinen Grund, mich zu fürchten. Dennoch tue ich es. Meine Träume haben mich geängstigt, nur dass sie jetzt keine Träume mehr sind. Sie sind lebendiger. Sie handeln von Gesichtern, immer nur Gesichter. Sie scheinen mir unbekannt, und dann erlebe ich seltsame Augenblicke, in denen ich kurz davor bin, sie zu erkennen, aber es ist, als wehrten sie sich. Dann wache ich auf, weil… Ich bin wieder ungenau gewesen. Sie sind nicht aus Fleisch und Blut. Sie sind eher geisterhaft als real, aber sie haben Gesichtszüge. Sie haben eine Farbe, aber die ist nicht zu definieren. Sie sind fast, aber nicht ganz menschlich. Das ist es. Sie sind nur fast, aber nicht ganz menschlich. Ist das ein Hinweis?
Wenn ich mich vor diesen Gesichtern fürchten würde, ginge ich nur widerwillig ins Bett, und doch freue ich mich manchmal auf den Schlaf; und ich merke, dass es daran liegt, dass ich die Antwort wissen will. Irgendwo in meinem Kopf gibt es einen Schlüssel, der die Tür öffnen und mir sagen wird: Warum diese Gesichter? Warum nicht irgendwelche anderen? Was zeichnet sie aus? Mittlerweile sehe ich sie recht deutlich, auch tagsüber, wenn meine Gedanken in irgendeiner Weise abschweifen. Mein Unbewusstes projiziert diese Phantomgesichter auf lebendige Menschen, nur einen Augenblick lang, bevor die echten Menschen wieder in den Vordergrund treten. Danach fühle ich mich töricht und aufgewühlt wie ein alter Mann, dem Namen auf der Zunge liegen, die er nicht hervorbringt.
Ich zittere. Das stellt mein Verstand mit mir an. Ich zeige erste Risse. Ich bin zum Schlafwandler geworden. Lucía hat es mir erzählt, als ich unter der Dusche war. Sie sagte, dass ich um drei Uhr morgens in mein Arbeitszimmer hinuntergegangen wäre. Später habe ich auf dem Schreibtisch einen leeren Block gefunden. Darauf den Abdruck einer Handschrift. Das Original war nirgends zu finden. Ich habe das oberste Blatt vors Fenster gehalten und sah, dass es etwas war, was ich selbst geschrieben hatte: »…in der dünnen Luft…«?
EINS
Mittwoch, 24. Juli 2002
I ch will zu meiner Mami. Ich will zu meiner Mami.«
Consuelo Jiménez öffnete die Augen und blickte in ein Kindergesicht, das nur wenige Zentimeter von ihrem eigenen, halb im Kissen vergrabenen Kopf entfernt war. Ihre Wimpern streiften den Bezug. Das Kind packte ihren Oberarm.
»Ich will zu meiner Mami.«
»Schon gut, Mario. Wir suchen deine Mami«, sagte sie und dachte, dass es dazu noch viel zu früh war. »Du weißt doch, dass sie direkt gegenüber ist, oder? Du kannst hier bei Matías bleiben, mit uns frühstücken, noch ein bisschen spielen…«
»Ich will meine Mami.«
Die Finger des Kindes gruben sich fordernd in ihren Arm. Sie strich ihm über den Kopf und küsste seine Stirn.
Ihr widerstrebte es, im Nachthemd über die Straße zu gehen, so wie es die Frauen aus der Arbeiterschicht taten, wenn sie etwas aus dem Laden an der Ecke brauchten, aber das Kind zerrte quengelnd an ihr. Also streifte sie einen seidenen Morgenmantel über ihren Pyjama und schlüpfte in ein Paar goldfarbene Sandalen. Schnell fuhr sie sich noch einmal durchs Haar, während Mario schon ihren Morgenmantel zuband und sie dann hinter sich herzerrte.
Sie fasste seine Hand und führte ihn Stufe für Stufe die Treppe hinunter. Als sie das kühle, klimatisierte Haus verließen, schlug ihnen eine undurchdringliche, schwüle Hitze entgegen, die nach einer weiteren drückenden Nacht keinen Hauch von morgendlicher Frische mehr mit sich trug. Sie überquerten die leere Straße. Palmwedel hingen ausgedorrt herab, und man hatte das Gefühl, als hätte das Viertel nur mühsam aus dem Schlaf gefunden. Das einzige Geräusch war das Surren der Klimaanlagen, die weitere unerwünschte heiße Luft in die erstickende Atmosphäre des exklusiven Viertels Santa Clara am Stadtrand von Sevilla pusteten.
Während sie Mario, der plötzlich störrisch und bockig geworden war, als hätte er sich das mit seiner Mami anders überlegt, halb hinter sich herziehen musste, sah Consuelo, dass aus einem Riss in einem der hohen Balkone am Hause der Vegas Wasser tropfte. Dick wie Blut platschte es in der mörderischen Hitze auf die üppige Vegetation. Auf Consuelos Stirn bildete sich Schweiß, und beim Gedanken an den restlichen Tag und die sich seit Wochen aufstauende, sengende Hitze wurde ihr übel.
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