Knight 02 - Stuermisches Begehren
Öffnung.
Furcht prickelte ihr eiskalt den Rücken hinab. Unruhig fragte sie sich, auf was für einen Mann sich ihre Schwägerin da bloß eingelassen hatte. Caro hatte Lucien als eleganten Mann von Welt und als gefährlich schlauen chargé d’affaires des Außenministeriums beschrieben, der sechs oder sieben Sprachen beherrschte, aber was war das für ein Mann, der rings um sein Haus bewaffnete Wachen aufstellte, am Tor Parolen verlangte und in unterirdischen Höhlen Gesell- schaften abhielt? Sie wusste, dass sie umkehren sollte, doch das leise Wispern zog sie unwiderstehlich vorwärts. Mit klopfendem Herzen betrat sie die Höhle.
Im Schein der Fackeln an den Wänden leuchteten feucht glänzende Tropfsteine auf, die wie Drachenzähne aus Boden und Decke ragten. Während sie sich tiefer in die Höhle vor- tastete, wurde das geheimnisvolle Rauschen immer lauter. Dann stach ihr der belebende Geruch von frischem Wasser in
die Nase, und plötzlich wusste sie, was es war – ein unterir- discher Fluss. Sie hatte den Wasserfall ja gesehen, der an der kleinen Holzbrücke aus dem Felsen stürzte. Ihre Annahme bestätigte sich, als sie um eine Kurve bog und den Fluss er- reichte. Endlich tauchten auch Menschen auf. Lakaien hal- fen den verkleideten Gästen in verspielte Gondeln. Am Bug jeder Gondel steckte eine Fackel, deren Schein von der spie- gelglatten schwarzen Wasseroberfläche zurückgeworfen wurde. Einer der Diener winkte Alice heran.
„Bitte beeilen Sie sich, Madam. Wir können Sie hier noch unterbringen!“ rief er energisch.
Alice zögerte. Ihr Herz hämmerte. Wenn sie jetzt in die Gondel stieg, könnte sie sich dem Geschehen vielleicht nicht mehr entziehen – aber dann fingen die Leute an, sie rüde und ungeduldig anzuschnauzen.
„Beeilung!“
„Sie sind wohl nicht ganz bei Trost!“
„Trödeln Sie nicht herum, wir sind schon spät dran!“
Simpler, sturer Stolz hinderte sie daran, vor so vielen Leu- ten einfach die Flucht zu ergreifen. Was ihr verstorbener Bruder wohl zu alledem gesagt hätte, wagte sie sich gar nicht auszumalen – sie eilte einfach zum Fluss und ließ sich vom Dienstboten in die Gondel helfen. Nachdem sie sich gesetzt hatte, stieß der Bootsmann vom Ufer ab und stakte sie tiefer in die Kalksteinhöhle. Sie zog die Füße an und faltete züch- tig die Hände im Schoß.
„Jetzt kommen wir noch später“, zischte jemand in ihrer Nähe.
Ängstlich blickte Alice sich um. Allmählich wurde ihr bang ums Herz, aber dafür war es nun zu spät.
„Gar nicht hinhören“, lallte der beleibte Trunkenbold ne- ben ihr. Er war klein und kahl und sah wie Bruder Tuck aus den Robin-Hood-Geschichten aus. Die braune Kutte spann- te sich über seinem Bauch. „Wahrscheinlich haben wir die Zeremonie verpasst, aber ich komme eh nur zum Feiern.“ Welche Zeremonie? fragte sie sich und betrachtete ihren Nachbarn ängstlich.
Er lächelte sie mit schweren Lidern an.
„Und Sie?“ fragte er. „Wollen Sie auch bloß Ihr Vergnügen haben, oder sind Sie eine echte Jüngerin?“
Misstrauisch musterte Alice ihn und rückte ein bisschen
von ihm ab, während die Gondel anmutig durchs tinten- schwarze Wasser glitt. Sie sprach nicht mit Fremden, vor al- lem nicht mit lüsternen, betrunkenen Männern. Außerdem wollte sie nicht offenbaren, dass sie keine Ahnung hatte, wo- von er redete.
Er betrachtete sie mit einem schlauen Glitzern in seinen kleinen braunen Äuglein. „Sie dürfen mich Orpheus nen- nen.“
Die gedehnten Vokale ließen darauf schließen, dass er Amerikaner war, was merkwürdig war, da England sich mit Amerika im Krieg befand. In den Zeitungen stand, dass bri- tische Schiffe die Bucht von New Orleans immer noch blo- ckierten, wie sie es seit 1812 taten. Da lenkten sie ein paar flatternde Fledermäuse ab. Sie blickte auf und schlang mit einer Grimasse die Arme eng um sich. Kurz darauf erkannte sie allerdings, dass Orpheus ihre größere Sorge hätte sein sollen, da dieser nun mit einem lüsternen Grinsen näher rückte.
„Sie sind neu, stimmts? So ein schüchternes kleines Ding. Und so jung“, wisperte er und legte ihr die Hand auf den Oberschenkel.
Sie zuckte so heftig zurück, dass das Boot schwankte. „Sir!“
Lachend zog Orpheus die Hand zurück. „Keine Angst, meine Kleine, ich kenne die Regeln. Draco darf bei Ihnen als Erster ran.“ Er zog eine Flasche unter der Kutte hervor und entkorkte sie. „Auf Draco Argus Prospero – den Meister der Illusionen und den Herrn der
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