Knight 02 - Stuermisches Begehren
Intrigenspielen einzusetzen – arme Betroge- ne, von denen sich die Agenten beispielsweise Entree in je- ne Kreise erhofften, die sie zu unterwandern wünschten.
Luciens Assistenten, liebevoll Nord, Süd, Ost und West genannt, und dazu Talbert, spielten die Rolle dieser Aben- teurer. Sie alle waren Mitte zwanzig und von relativ vorneh- mer Geburt. Die jungen Männer überwachten nicht nur ih- ren jeweiligen Quadranten der Grotte, sie gaben sich auch als rastlose junge Heißsporne, nach denen kluge Agenten Ausschau hielten, wenn sie etwas planten.
Die jungen Männer waren Lucien immens nützlich, und da es für Agenten keine offizielle Ausbildung gab, hatte er es sich zur Aufgabe gemacht, ihnen alles beizubringen, was er wusste. Sie waren noch jung und idealistisch genug, um sich nichts daraus zu machen, wenn er ihnen erklärte, wie undankbar dieser Beruf war. Sie waren aus Abenteuerlust dabei und weil sie es aufregend fanden, ständig am Abgrund entlangzubalancieren.
Das diesmal reichlich ergebnislose Treffen neigte sich sei- nem Ende zu, und die jungen Frauen und Männer, die es nach getaner Arbeit nach etwas Entspannung gelüstete, be- äugten einander.
„Eines noch“, sagte Marc Skipton, der den westlichen Quadranten beaufsichtigte.
Lucien unterdrückte ein Gähnen. „Ja?“
„Ich habe gehört, wie ein Agent des Zaren ... wie heißt er noch mal?“
„Leonidowitsch?“
„Ja, der. Ich habe gehört, wie er einem Österreicher er- zählte, dass Claude Bardou noch am Leben ist und jetzt für die Amerikaner arbeitet.“
Lucien starrte ihn an. Es überlief ihn kalt. Sein Gesicht wurde kreidebleich, und möglicherweise setzte auch sein Herz einen Schlag aus. „Am Leben?“ stieß er hervor, ver- zweifelt um Beiläufigkeit bemüht. „Wie kann das angehen?“ „Leonidowitsch sagte, dass er nicht wüsste, ob an dem Gerücht etwas dran sei“, erwiderte Marc mit lässigem
Schulterzucken, „aber es heißt, dass Bardou das Feuer in Paris selbst gelegt haben soll. Dass er den eigenen Tod in- szeniert hat und dann nach Amerika geflohen ist.“
O Gott. Die Nachricht traf Lucien wie ein Schlag. Sofort hatte er Patrick Kelleys wettergegerbtes Gesicht wieder vor Augen, das ihm keine Ruhe mehr ließ. Rasch senkte er den Blick, legte die Hände auf die Hüften und wandte sich ab, um seine entsetzte, panische Reaktion zu verbergen.
Verdammt, er hatte gehört, dass Bardou tot sei, dass er Napoleons Sturz nicht überlebt habe. Als er von dem Feuer in Paris erfuhr, hatte Lucien mit seinem besten Portwein auf das Ableben des Ungeheuers angestoßen. Er hatte nur be- dauert, dass nicht er derjenige gewesen war, der Bardou hatte erledigen dürfen.
Stewart Kyle vom Ostquadranten stieß einen leisen Pfiff aus. „Bardou ist eine Legende. Wenn er sich jetzt als Söld- ner bei den Amerikanern verdingt hat ...“ Er schauderte.
„Erinnert ihr euch noch an die Geschichte von der Kauf- mannsfamilie in Westfalen, die er abschlachten ließ, nur weil er sie verdächtigte, sich gegen König Jérôme verschwo- ren zu haben?“ fügte Marc grimmig hinzu. „Der Mann ist ein richtiger Teufel.“
„Genug“, befahl Talbert energisch. „Wir befinden uns in Gegenwart von Damen.“
Marc und Kyle baten die unruhigen Mädchen um Ent- schuldigung, doch Lucien achtete nicht auf sie. Sein Magen hatte sich zusammengekrampft, und am ganzen Körper brach ihm kalter Schweiß aus. Er wischte sich die klammen Handflächen an den Hosen ab und begann rastlos auf und ab zu gehen.
Claude Bardou, der französische Spion, der unter dem Decknamen Triton bekannt war, war Fouchés Topagent, die Geheimwaffe des Polizeiministers. Die jungen Leute im Raum wussten es nicht, aber Lucien und Bardou verband ei- ne gemeinsame Geschichte.
Eine sehr blutige Geschichte.
Lucien hatte weder Damien noch Castlereagh, noch sonst irgendeiner lebenden Seele von seiner Gefangennahme und Folter vor eineinhalb Jahren erzählt, im Frühling 1813. Bei seiner Flucht hatte er sämtliche Männer Bardous getötet, und die einzigen Menschen, die heute noch von der hölli-
schen Tortur wussten, waren Bardou, der die Schmerzen zu- gefügt hatte, und Lucien, der sie durchlitten hatte.
Auch wenn er später herausgefunden hatte, dass Bardou Anweisung von Fouché gehabt hatte, keine sichtbaren Nar- ben zu hinterlassen, war es dem Ungeheuer nur allzu gut ge- lungen, die Schmerzen in den tiefsten Schichten seiner See- le zu vergraben. Lucien hatte geglaubt, dass er es verwun- den
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