Knochenkälte
soll. Pike macht sein Feuerzeug an und sterilisiert damit die Nadel.
Auf einmal kommt mir das Ganze wie die schlechteste Idee aller Zeiten vor. Aber ich setze mich trotzdem auf den Hocker und zeige Howie genau, wohin ich das Tattoo haben will. Er reinigt die Stelle mit einem antiseptischen Tuch.
»So werden Tattoos im Knast gemacht«, sagt er. »Ich hab im Internet nachgelesen, wie es geht.« Er zeichnet das Symbol mit einem Füller vor. »Perfekt.«
Howie greift sich eine Flasche schwarzer Tinte und schüttet etwas davon auf ein Gästehandtuch. Währenddessen klebt ihm Pike ein Pflaster auf die Schulter und bedeckt damit das Tattoo, das immer noch blutet.
»Ich glaube, ich brauche jemanden, der mich festhält«, sage ich. »Nicht dass das Tattoo am Ende ganz verschwommen wird.«
»Ich mach das.« Ash stellt sich hinter mich und packt ganz fest meinen Arm.
»Bereit?«, fragt Howie.
»Nein. Aber jetzt mach schon!«
Ich schließe die Augen und wappne mich innerlich.
epilog
Die Eiszeit ist vorbei.
Während ich unter den Bäumen am Kiesstrand hindurchrase, scheuche ich mit der Hand einen Schwarm Stechmücken weg. Sonnenlicht blitzt auf den kleinen Wellen des Sees auf. Das tiefe Grünblau des Wassers sieht aus wie flüssiger Himmel, der mich zu einem erfrischenden Hechtsprung verlocken will. Steine knirschen unter meinen Füßen. Ich komme schlitternd zum Stehen und beuge mich vor, die Hände auf die Knie gestemmt, um wieder zu Atem zu kommen. Träge gleitet eine Hummel vorbei, frisch aus dem Winterschlaf erwacht und von der warmen Sonne und dem grünen Duft nach Frühling genauso überrascht wie ich.
Ich renne gemeinsam mit Ash, aber ich habe keine Chance, mit ihr Schritt zu halten. Sie dreht ihre Runden um mich herum, ruft mir aber erbauliche Sachen zu, wenn sie an mir vorbeikommt.
»Beweg dich, Weichei!«, schreit sie zum Beispiel. Oder: »Schneller, Bleichgesicht!«
Wirklich sehr erbaulich.
Ich klappe am Strand zusammen und blinzele gegen das Geglitzer auf dem See an. Diesen Frühling hat es spät getaut,
der Winter hat nur langsam und widerwillig das Feld geräumt. Mein Blut ist immer noch ein bisschen kälter als normal. Jetzt gerade, nachdem Ash mich eine Stunde lang gescheucht hat, fühle ich mich wie ein Eiswürfel im Inneren eines Schmelzofens.
Ash hat sich in den Kopf gesetzt, bei den Junioren-Ausscheidungen in Toronto mitzumachen. Der nächste Schritt auf ihrem Weg zur Weltherrschaft.
Sie ist irgendwo ein gutes Stück vor mir und rennt, als wäre der Teufel hinter ihr her.
Das Gefühl kenne ich.
Das Wasser sieht so verführerisch kühl aus, dass ich nicht widerstehen kann. Ich kicke meine Turnschuhe weg, stopfe meine Socken rein, schäle mich aus dem T-Shirt und wate hüfthoch ins Wasser. Der See verliert seine eisige Note niemals, nicht mal im Sommer. Er vergisst nie, dass er mal Teil eines Gletschers gewesen ist.
Ich spritze mir Wasser ins Gesicht, streiche mir nass die Haare nach hinten.
Direkt vor mir ist die orangefarbene Boje, auf die Ash und ich vor Monaten zugerast sind. Damals hat sie mich gewinnen lassen. Ich mag es, wenn sie mich gewinnen lässt. Immer wieder haben wir uns seither hier getroffen. Dieser Strand ist unser Platz, zu steinig und abgelegen, als dass jemand anders ihn wollen würde.
Ich überlege, ob ich Ash begleiten soll, wenn sie zum Kämpfen in die Stadt geht. Ich könnte bei meiner Tante wohnen. Vielleicht auch mal zu Moms Grab gehen und ihr erzählen, wo ich war und was ich da erlebt habe. Ihr alles erzählen.
Ich hab Ash von meinem Vorhaben erzählt. Sie hat mich nur verwirrt angeguckt.
»Wieso meinst du, dass sie dort ist? Ich meine, unter der Erde. Wenn man stirbt, ist man frei und kann gehen, wohin man will, oder nicht?«
»Ist das so ein Indianerglaube?«
»Nein, ein Ash-Glaube. Jetzt mal ernsthaft, wieso sollte sie dort sein und nicht irgendwo anders? Dort wo du auch bist, zum Beispiel.«
Die Vorstellung gefällt mir. Wenn man stirbt, ist man frei und kann gehen, wohin man will. Mom könnte überall sein. Überall dort, wo ich bin.
Selbst hier, hüfthoch im See.
Das Knirschen von Kieselsteinen unter fremden Füßen holt mich aus meinem sonnengeblendeten Tagtraum. Ash steht am Ufer. Ihr dunkler Teint ist jetzt noch eine Nuance röter und ein bisschen staubig vom Laufen. Ihr Gesicht glänzt vor Schweiß.
»Drückeberger. Du bist eine Meile zu wenig gelaufen.«
Ich spritze ihr Wasser entgegen. »Komm rein und versuch, mich dafür zu
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