Kölner Kulissen
Vico sechsundzwanzig. Ihm passt sein Premierenanzug von damals sicher nicht mehr.
Passte, verbessert sie sich. Wieder sieht sie seinen leblosen Körper vor sich. Sieht sich selbst, wie sie sich gestern Abend neben ihn gekniet hat. Vico liegt auf dem Bauch, die Beine gekreuzt. Beim Sturz hat er sich um hundertachtzig Grad gedreht. Der rechte Arm liegt unter seinem Körper. Der linke ist abgespreizt, die Handfläche nach oben gedreht. Als erwarte er eine letzte Gabe. Sie kniet sich neben ihn. Mit zwei Fingerspitzen berührt sie sein Handgelenk. Kein Puls, wie erwartet. In ihrer rechten Hand hält sie noch immer die Weinflasche. Sie stellt sie neben die Gläser auf den niedrigen Couchtisch. Zu ihrem Erstaunen ist die Flasche beim Schlag auf Vicos Schädel nicht zerbrochen.
Wie durch das Objektiv einer Kamera sieht sie Vico und sich vorher auf dem Sofa sitzen. Vico mit halb aufgeknöpftem Hemd, ein Arm auf der Rückenlehne des Sofas. Paula mit übereinandergeschlagenen Beinen und gelangweiltem Blick. Glaubt er tatsächlich, sie mit seiner Villa in Marienburg beeindrucken zu können? Oder mit dem Preis des Weins?
»Du weißt doch, ich trinke nichts«, sagt sie.
»Was anderes zum Lockerwerden?«
»Meinetwegen zieh dir noch was rein. Aber ohne mich.«
Er lächelt schief und gießt sich das Weinglas randvoll. Die Flasche behält er in der Hand. Vielleicht lohnt es sich nicht, sie abzustellen, weil er sich sowieso gleich nachschenken wird. Jedenfalls verschwindet er nicht im Bad, um mit noch weiter aufgerissenen Augen und laufender Nase zurückzukommen. Stattdessen rückt er auf dem Wildlederbezug des Sofas ein bisschen näher. Paula hätte sich denken können, dass er es mal wieder probieren würde. Oft genug ist sie Vicos Annäherungsversuchen schon ausgewichen. Zwei- oder dreimal hat sie es auch geschehen lassen. Kein Grund, sich zu schämen. Manchmal braucht man einen anderen Menschen. Einen anderen Körper. Mehr ist es doch kaum, was ihr dann fehlt. Vielleicht sogar in dieser Nacht.
Schließlich ist der Tag ziemlich ernüchternd verlaufen. Am Vormittag das Treffen mit Franziska, ihrer Agentin. Bei wässrigem Milchkaffee erklärt sie Paula, wie schwierig es momentan sei, Rollen für ihren Typ zu finden. Warum das vor ein paar Jahren noch ganz anders war, kann Franziska ihr nicht begreiflich machen. Stattdessen lässt sie den überteuerten Kaffee von Paula bezahlen, ohne auch nur Anstalten zu machen, ihre Rechnung selbst zu begleichen.
Am Nachmittag dann der Anruf von ihrem Bruder. Konstantin hat den Werbespot im Radio gehört. Jetzt will er wissen, ob er ihre Stimme richtig erkannt habe. Doch anstatt sie zu diesem Job zu beglückwünschen, wechselt Konstantin das Thema. Das ist seine Art von Höflichkeit. Er kritisiert nicht oder spottet gar. Er wechselt einfach das Thema. Und das ist schlimmer, als wenn er sie auslachen würde. Wozu es Grund genug gibt. Denn der Klipp-und-klar-Werbespot ist der peinlichste Job, den Paula je angenommen hat. Und das Lächerlichste, was sie aus ihrem Talent machen konnte. Doch anstatt ihr die Gelegenheit zu geben, sich für das schnell verdiente Geld zu rechtfertigen, fragt Konstantin, wann sie mal wieder bei ihm vorbeikäme. Womit er ihr ein schlechtes Gewissen macht. Sie weiß schon gar nicht mehr, wann sie das letzte Mal bei ihm im Heim war. Und mit Dreharbeiten oder einem Engagement am Theater kann sie sich schlecht entschuldigen. Früher hat das mal funktioniert. Aber das ist lange her. Ihm die Wahrheit zu sagen fällt ihr schwer: Sie kann sich das Ticket für eine Zugfahrt durch halb Deutschland nicht leisten. Die letzte Miete ist noch nicht bezahlt, und bald ist schon wieder die nächste fällig. Das Honorar für den Radiospot hat sie längst ausgegeben. Also lügt sie ihren Bruder an und erzählt etwas von wichtigen Casting-Terminen.
Kaum dass sie aufgelegt hat, ruft Vico an und eröffnet Paula die Chance, aus ihrer Lüge Wahrheit werden zu lassen. Er wolle ihr ein Drehbuch zeigen. Die weibliche Hauptrolle sei noch unbesetzt. Ob er sie zum Essen einladen dürfe. Sie solle sich hübsch machen. Den letzten Satz hätte er sich sparen können. Sie ist hübsch. Noch immer. Aber natürlich nimmt sie seine Einladung an.
Vico holt sie mit seinem Jaguar in ihrer Mülheimer Wohnung ab. Insgeheim hofft Paula, die Jungs aus der Nachbarschaft würden sich mit ihren Schlüsselbunden am Lack austoben, während Vico in ihrer Wohnung ist. Er scheint sich dieser Gefahr auch bewusst zu sein.
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