Kölner Luden: Sandmanns dritter Fall
40 Jahre zuvor abgelichtet hatte. Vinzenz registrierte aufmerksam Marius’ Reaktion.
»Ein bisschen ist wohl untertrieben, oder? Das hier auf dem farbigen Bild bin ich.« Wieder dieses demonstrative viermalige Klopfen. »Und das«, Vinzenz zeigte nun auf den Chargesheimer-Band, »das ist mein Vater.« Viermal Klopfen, einmal für jedes Wort.
»Dass der Mann Ihnen ähnlich sieht, heißt nicht, dass er Ihr Vater ist.«
»Ich erzähle Ihnen etwas über mich.« Sein Klient blinzelte Marius an. »Geboren wurde ich irgendwann im Spätsommer 1982, genau weiß ich das nicht. Am 27. September jedenfalls fand mich eine Stationsärztin des Marienhospitals am Kunibertskloster, als sie nach zehn Stunden Nachtdienst das Krankenhaus verlassen wollte. Ich lag in eine Tüte eingewickelt vor der Tür.«
»Wenige Schritte von Unter Krahnenbäumen entfernt.« Vinzenz nickte heftig mit dem Kopf, sein dünnes Haar fiel ihm in die Stirn. »Nur war das sicher 25 Jahre später.« Ein fast schon hasserfüllter Blick traf Marius. An welche Hoffnung klammerte sich Dietrich? Und warum? »Ihre Eltern wurden nie ausfindig gemacht?«
»Ich glaube nicht, dass jemand ernsthaft nach ihnen gesucht hat. Ich war bloß ein weiteres lästiges Kind, eine Urkunde, ein willkürlicher Name. Ein Stempel und ab ins Heim mit ihm!« Die Hände krallten sich in die Plastiktüte.
»Haben Sie nach Ihren Eltern gesucht?«
»Natürlich. Sonst hätte ich das nie gefunden!« Wieder dieses Klopfen.
»Wie sind Sie auf Chargesheimer gekommen?«
»Ich schaue mir viele alte Bilder an.«
Innerlich seufzte Marius. Ein Waisenkind, das – wie es schien – manisch alte Kölner Fotos betrachtete, um jemanden zu finden, der ihm ähnlich sah. Der sein Vater oder seine Mutter sein könnte. So sah Verzweiflung aus. Dennoch war er fündig geworden. Unglaublich!
»Jetzt möchten Sie, dass ich herausfinde, wer der Mann auf dem Bild ist?«
»Und wo er sich aufhält!«
Marius schätzte seinen neuen Klienten noch einmal ab. »Das ist nicht ganz billig.«
Aus der Plastiktüte zog Vinzenz ein Bündel zerknitterter 5- und 10-Euro-Scheine hervor und legte sie auf den Bildband. »Das sollte als Anzahlung reichen«.
Marius nahm das Bündel und zählte es rasch durch. Es reichte allemal.
Routinemäßig begann der Privatdetektiv seine Recherchen im Internet, wo er erfolglos seinen Auftraggeber überprüfte. Der Name ›Vinzenz Dietrich‹ ergab keine Treffer, die Marius weiterbrachten. Er hatte keine Ahnung, mit wem er es zu tun hatte, außer der Nummer eines Mobiltelefons hatte ihm Vinzenz keinerlei Kontaktdaten hinterlassen. Der Detektiv wusste u ̈ ber seine Klienten gerne Bescheid, vor allem, wenn sie so befremdlich wirkten wie Dietrich. Als Nächstes recherchierte er Chargesheimer und seinen berühmten Bildband, ohne dass das Internet dem früheren Kunstgeschichtsstudenten Neues erzählen konnte. Ebenso wenig über die Straße selbst. Also zog er sich seine Seemannsjacke über den Kapuzenpullover und verließ die Wohnung. Nachdem er die Tür zweimal abgeschlossen hatte, rüttelte er noch einmal an der Klinke, um zu überprüfen, ob sie wirklich zu war.
Eine Dreiviertelstunde später stand er vor einem Treppenabsatz an der Nord-Süd-Fahrt, die die Kölner Altstadt vierspurig durchschnitt. Einige Stufen führten hinab zu Unter Krahnenbäumen. Marius sah schon von hier oben, dass seine Besichtigung wohl zwecklos sein würde. Eine schmale, nichtssagende Straße, eingezwängt zwischen den Rückseiten toter Bürogebäude. Er hatte darauf gebaut, ein paar Anlaufstellen zu finden, wo sich die alten Bewohner der Straße trafen. Hatte gehofft, dort jemanden zu finden, der – wenn schon nicht die Person auf dem Bild selber – vielleicht jemanden kannte, der jemanden kannte … Köln eben. Hier schien jedoch niemand mehr zu leben, der ihm weiterhelfen konnte.
Unschlüssig stieg er die schwarzen Stufen hinunter und ging die Straße entlang in Richtung Musikhochschule, einem kargen Betonbau, dessen rote Metallapplikationen vergeblich versuchten, die Tristesse der Gegend aufzulockern. Anders als auf den Bildern Chargesheimers, die vor Leben strotzten, war niemand auf der Straße unterwegs. Erst ganz am Ende saßen zwei asiatische Musikstudentinnen auf einer rot lackierten Metallbank. Ihre Instrumente lehnten neben ihnen, während sie sich über einige Notenblätter beugten.
Gegenüber des Betonbaus hielt sich ein Kiosk in der Einöde. Marius ging hinein. Hinter der Theke schaute
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