Die Spur der verlorenen Kinder
Eins
Das verblassende Nachmittagslicht haftete am westlichen Horizont wie Blut auf Stoff. Mira Morales schoss zwei weitere Fotos ihrer Tochter, ein Umriss vor dem wunderbaren Junilicht, während sie den Strand entlangspazierte und noch einen Eimer voll Muscheln sammelte, den sie mit nach Hause nehmen wollte.
»Hey, Annie«, rief sie. »Lass uns das Boot packen.«
»Noch fünf Minuten, Mom«, rief Annie zurück.
Noch fünf Minuten, jetzt nicht, ich bin noch nicht so weit : Die Leier einer dreizehnjährigen Aufschieberin. Aber es lagen knapp fünfundzwanzig Kilometer offenes Wasser zwischen Little Horse Key, einem unbewohnten Inselchen im Golf von Mexiko, wo sie den Tag verbracht hatten, und Tango Key, der Insel, auf der sie lebten. Die Vorstellung, im Dunkeln zurückzufahren in einem winzigen Bötchen mit einem noch winzigeren Außenbordmotor, war Mira ausgesprochen unangenehm.
Sie sammelte eilig Handtücher, Sonnenschirme, Sonnencreme, Taschenbücher und das ganze restliche Zeug zusammen, das um die Kühlbox und das Boot herum verstreut lag. Es sah aus, als wären sie mehrere Wochen hier gewesen, nicht bloß einen Tag. Sie bezweifelte, dass es ihr jemals gelingen würde, nur wenig einzupacken. Aber wie konnte man auch das Haus verlassen ohne reichlich Mineralwasser, Essen, Snacks, ihr Handy und ihren Pocket-PC? Und es war einfach unmöglich, an den Strand zu gehen, ohne etwas zum Lesen mitzunehmen, am besten eine kleine Auswahl aus den gut zehn Vorabausgaben, die jede Woche in ihrem Buchladen eintrafen. Sie hatte zudem ein neues Tarot-Spiel mitgenommen, das ein Anbieter ihr geschickt hatte, mit einem Design aus Der Herr der Ringe. Und die Digitalkamera, die Shep ihr letzte Weihnachten geschenkt hatte, natürlich auch.
Annie lief über den Sand, um Mira die Muscheln zu zeigen, die sie gesammelt hatte. Ihre Begeisterung über etwas so einfaches war eine erfreuliche Abwechslung von der Düsternis, die sie im letzten Jahr befallen zu haben schien. Obwohl sie ein paar Freunde gefunden hatte, seit sie vor drei Jahren nach Tango Key gezogen waren, hatte sie keine einzige enge Freundin, niemanden, den sie jeden Abend anrief, um mit ihm zu tratschen oder mit dem sie ihre größten Geheimnisse teilen konnte. Mit dreizehn stellte es ein ziemlich großes Vakuum dar, wenn es keine beste Freundin gab.
Die paar Male, die Mira versucht hatte, sich auf Annie einzustellen, konnte sie nicht über die Wellen schierer Einsamkeit und Isolation hinwegkommen. Vor Jahren hatte Miras Großmutter Nadine sie davor gewarnt zu versuchen, in jemandem zu lesen, den sie liebte, denn die Wahrheit würde sie schockieren. In unserem tiefsten Innersten sind die meisten von uns trotz allem immer Fremde. Damals hatte Mira die Bemerkung zynisch gefunden. Jetzt wurde ihr klar, dass Nadine in Wahrheit gesagt hatte, manche Dinge musste man eben allein durchstehen. Mira konnte für Annie da sein, sie konnte sie unterstützen und ihr Rat anbieten, aber sie konnte den Schmerz ihrer Tochter nicht vertreiben. Sie konnte nicht für sie die Pubertät durchleben. Und aus all diesen Gründen hatten sie den Tag auf der kleinen Insel verbracht, wo sie mit ihrer Tochter geschwommen war und in der Sonne gelegen hatte. Mom, die Ersatzfreundin.
»Ich habe eine Menge tote Krabben am Strand gesehen, Mom.« Annie schüttete ihre neuesten Muscheln in eine kleine Kühlbox. »Glaubst du, das hat etwas mit dem schwarzen Wasser dort draußen zu tun?«
»Nein. Das Feld liegt achtzig Kilometer vor der Küste.«
Das Feld, von dem Annie sprach, war vor etwa acht Monaten von einigen Fischern entdeckt worden. Sie beschrieben es als einen großen Bereich schwarzen Wassers, an dessen Oberfläche glibberiges Zeug schwamm. Fischer, die seit fünfzig Jahren das Wasser des Golfs durchpflügten, behaupteten, so etwas noch nie gesehen zu haben. Obwohl das Feld keine toten Fische zurückließ – im Gegensatz zur Roten Tide – fand man in dem schwarzen Wasser allerdings auch keine lebenden Fische. Zu Beginn hatten Satellitenfotos gezeigt, dass das schwarze Wasser etwa knapp 2000 Quadratkilometer bedeckte, ungefähr die Größe des Lake Okeechobee.
Obwohl das Feld sich mittlerweile in mehrere kleinere Abschnitte geteilt hatte, sorgten sich Umweltschützer über die Folgen für die Meeresfauna und -flora und das Korallenriff, das einzige lebende Wallriff der USA. Meeresbiologen aus ganz Florida hatten seit dem Auftauchen Proben entnommen und eine Menge Theorien entwickelt. Eine von
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