Königskinder
schloss – und wieder öffnete. Simone wusste nicht, ob das komisch oder beängstigend war. Es roch jedenfalls nach Schicksal!
Mark hatte seine Taxi-Schicht um kurz nach zehn begonnen. Er war guter Laune. Im Spätprogramm von NDR 2 liefen Oldies. Gerade sang Peter Gabriel: » Oh, Lord! Here comes the Flood!« Mark mochte das Lied, obwohl seine persönlichen Erfahrungen mit dem Naturphänomen Flut ja eher negativ waren. Er sang mit.
Mark war der Meinung, dass Nostalgie nur in kleinen Dosen genossen werden durfte. Sonst schmeckte sie schal. Aber er hörte immer noch lieber Oldies als das, was die Erst-, Zweit- und Drittplazierten irgendwelcher aktuellen Castingshows herauszuplärren pflegten.
Peter Gabriels Flut fand ein Ende und der Moderator meldete sich zu Wort. »Das folgende Stück wird Ihnen bekannt vorkommen«, verkündete er, »aber es ist nicht das, wofür Sie es zunächst halten werden. 1966 hatten die Mamas und Papas mit › California Dreamin‹ einen weltweiten Hit. Der britische Sänger Daniel Merriweather hat in seinem Song › Could You‹ die legendäre Melodie nun interessant variiert. Hören Sie selbst!«
Mark mochte keine Coverversionen; entweder war ein Lied so gut, dass es Bestand hatte, oder man brauchte es nicht. Trotzdem ließ er das Radio weiterlaufen.
» Could you be my sunshine on a cloudy day, could you be my yellow when I’m feeling grey«, sang der Mann, von dem Mark noch nie gehört hatte, und er fand es überraschend schön. Gerade als Mark nach dem Lautstärkeregler griff, um das Lied etwas lauter zu drehen, sah er, dass plötzlich etwas von der Seite auf sein Auto zurollte. Nein, es rollte nicht – es taumelte! Mark machte eine beherzte Vollbremsung. Das Taxi kam mit quietschenden Reifen zum Stehen. Gott sei Dank war niemand hinter ihm gefahren!
Mark sah erschrocken in den Rückspiegel: Das Es war eine Frau! Er konnte sie nur in Umrissen erkennen. Es war zu dunkel, als dass er ihr Gesicht sehen konnte. Sie war sehr dick, trug ein wallendes Kleid – und walzte in Richtung seines Wagens! Mark zögerte nicht eine Sekunde und setzte sofort zurück. Er musste nicht aussteigen. Die Frau riss sofort die Tür auf und zwängte sich in den Wagen. »Krankenhaus!«, keuchte sie. »Baby!« Und dann schrie sie plötzlich auf, als hätte eine unsichtbare Macht ihr einen plötzlichen Schlag in die Magengrube versetzt.
Mark starrte in den Rückspiegel. Das passierte ihm gerade nicht wirklich, oder?
»Scheiße!«, brüllte die Frau los. »Worauf … wartest du … denn noch? Fahr los!«
Mark trat aufs Gaspedal. Das Taxi schoss mit aufheulendem Motor los. Er würde zum Krankenhaus Barmbek fahren; das war nicht allzu weit.
» Could you be my river and help me float away«, flehte der Sänger im Radio weiter, » could you be my sunshine on a cloudy day.«
» Was ist denn das für eine Kack-Version«, rief die Frau. »Das Original ist viel geiler. Das ist das Lieblingslied meiner Muuuuuuuuutter!«
Während Mark so schnell wie möglich fuhr, was bei dem nicht dichten, aber auch nicht spärlichen Verkehr ein gewisses Manövrieren und Hakenschlagen erforderte, versuchte die Frau auf dem Rücksitz einen weiteren Schrei zu unterdrücken. Es drang nur ein gequältes Zischen aus ihrem zusammengekniffenen Kiefer.
»Schreien Sie ruhig«, sagte Mark. »Was raus muss, muss raus!«
»Was du nicht … sagst, du … Klugscheißer!«, fauchte die Frau. »Das weiß ich selbst, dass … dass da gerade was aus mir rausmuss!« Ihre Worte kamen abgehackt, halb brüllend, halb ächzend.
Mark schaute in den Rückspiegel, doch es war dunkel im Wagen. Noch dazu klebten der Frau so viele schweißnasse Haarsträhnen im Gesicht, dass Mark es nicht erkennen konnte. Zusammen mit ihrer Körperfülle erinnerte sie an einen Yeti. Vielleicht war es das, was Reinhold Messner tatsächlich im Himalaja gesehen hat: Eine schwangere Tibeterin auf dem Weg zur nächsten Entbindungshütte? Mark stellte sich das bildlich vor – und er konnte nicht anders: Er musste lachen.
Für einen Moment hörte die Frau auf der Rückbank auf zu keuchen, erstaunt über den plötzlichen Heiterkeitsausbruch des Fahrers.
»Was ist denn so komisch?«, fragte sie. Da war kein Vorwurf in ihrer Stimme. Ihr deutlich ruhigerer Duktus legte die Vermutung nahe, dass die Wehe dem Ende entgegenging.
»Na ja. Alles. Und das hier«, antwortete er.
Mark wusste nicht, wie das möglich war, aber er wusste, dass die Frau nun grinste. Er konnte ihr
Weitere Kostenlose Bücher